Nach «Argus»-Einsatz: Bundesgericht hebt Freisprüche für Pikettoffizier auf und spricht von Amtsmissbrauch

Im Mai ist es zehn Jahre her, seit ein Mann in seiner Wohnung von einem Polizisten mit zwei Schüssen schwer verletzt worden ist. Der Einsatz der Sondereinheit Argus in Wohlen beschäftigt die Justiz bis heute. Zwar sprach das Aargauer Obergericht im November 2017 den Schützen vom Vorwurf der versuchten vorsätzlichen Tötung und der vorsätzlichen schweren Körperverletzung frei, die Schuldsprüche gegen den Gesamteinsatzleiter wurden jedoch von diesem selbst und dem ausserordentlichen Staatsanwalt Urs Sutter an das oberste Gericht des Landes weitergezogen.

Der Beschuldigte verlangte einen Freispruch in allen Anklagepunkten. Er sei von der Rechtmässigkeit des Vorgehens überzeugt gewesen und habe darauf vertraut, dass die Sondereinheit die Person festnehmen könne, ohne diese zu verletzen. Der betrunkene, tobende und mit einem Messer bewaffnete Mann hatte damit gedroht, sich selbst zu erstechen oder vom Balkon zu springen. Mit der Festnahme habe eine Selbstgefährdung verhindert und die öffentliche Ruhe und Ordnung wiederhergestellt werden sollen, argumentierte der Pikettoffizier.

Amtsmissbrauch

 

Doch damit vermochte er die Bundesrichter nicht zu überzeugen. «Amtsmissbrauch ist auch dann gegeben, wenn ein Beamter zwar legitime Ziele verfolgt, aber zur Erreichung derselben unverhältnismässige Mittel wie übermässigen Zwang anwendet», schreiben sie im Urteil. Aus dem Entscheid geht eindeutig hervor, wie die höchsten Richter den «Argus»-Einsatz bewerten: als ungeeignet und unverhältnismässig. Statt die Gefahr einer Selbstgefährdung des psychisch angeschlagenen Mannes zu verringern, sei das Risiko durch das Stürmen der Wohnung markant erhöht worden. Den Schuldspruch wegen Amtsmissbrauchs bestätigt das Bundesgericht genauso wie jenen  wegen Sachbeschädigung aufgrund der aufgebrochenen Haustür. Die Beschwerde des Pikettoffiziers wird abgewiesen.

Kritik am Obergericht

Im zweiten, ebenfalls am Mittwoch veröffentlichten Urteil, beschäftigen sich die obersten Richter mit der Beschwerde des ausserordentlichen Staatsanwalts und der Frage, ob der Beschuldigte sich zusätzlich der vorsätzlichen oder der fahrlässigen schweren Körperverletzung und des Hausfriedensbruchs schuldig gemacht hat. Von diesen Vorwürfen war der Gesamteinsatzleiter im November 2017 vom Aargauer Obergericht freigesprochen worden.

Die Oberrichter hatten festgestellt, der Beschuldigte habe die Verletzung des Mannes nicht in Kauf genommen, ein Eventualvorsatz liege deshalb nicht vor. In diesem Punkt sind die Richter in Lausanne noch gleicher Meinung wie ihre Aargauer Kollegen, ansonsten weicht ihre Einschätzung jedoch deutlich von jener der Vorinstanz ab. Nicht nachvollziehbar sei, «weshalb eine Stürmung der Wohnung mit Schusswaffeneinsatz mit schweren Verletzungsfolgen ab einem gewissen Zeitpunkt die einzige in Frage kommende Massnahme gewesen sein soll», heisst es im Urteil.

Dem Pikettoffizier wären vielmehr andere Mittel zur Verfügung gestanden, um die Lage zu entschärfen: Neben abwarten, damit sich die Situation hätte beruhigen können, wäre nach Ansicht der Bundesrichter auch ein Verhandler eine Option gewesen. Weil sich der Mann allein in seiner Wohnung aufhielt, bestand keine Gefahr für weitere Personen. Die schweren Verletzungen wären bei sorgfaltsgemässem Verhalten des Pikettoffiziers «zumindest mit einem hohen Grad an Wahrscheinlichkeit ausgeblieben», urteilen die Bundesrichter und heissen die Beschwerde des ausserordentlichen Staatsanwalts teilweise gut.

Neben dem Freispruch in Bezug auf den Vorwurf der fahrlässigen schweren Körperverletzung wird auch jener im Anklagepunkt des Hausfriedensbruchs aufgehoben. Die Folge: Das Bundesgericht weist den Fall zurück an das Aargauer Obergericht. Die Richter halten im Entscheid explizit fest, dabei müsse auch das Strafmass angepasst werden. Vom Obergericht war der Pikettoffizier zu einer bedingten Geldstrafe von 180 Tagessätzen zu je 180 Franken verurteilt worden.

Der Mann, der beim «Argus»-Einsatz durch zwei Schüsse in den Unterleib schwer verletzt worden war, ist mittlerweile verstorben. Ein rechtsmedizinisches Gutachten stellte jedoch fest, sein Tod stehe nicht im Zusammenhang mit den damals erlittenen Verletzungen. Die beiden Kinder des Verstorbenen haben sich ebenfalls ans Bundesgericht gewandt und neben den zusätzlichen Schuldsprüchen im Fall des Pikettoffiziers auch eine Verurteilung des Schützen wegen vorsätzlicher schwerer Körperverletzung verlangt. Das oberste Gericht tritt allerdings nicht auf ihre Beschwerden ein, weil sie dazu nicht legitimiert seien.

Bundesgerichtsurteile: 

  • 6B_258/2018,
  • 6B_281/2018,
  • 6B_262/2018,
  • 6B_263/2018 vom 24. Januar 2019