
Der Ermittler, der plötzlich auf der anderen Seite steht
«Mängel in der Amts- und Personalführung des Leitenden Staatsanwalts» – so lautet die offizielle Umschreibung des Regierungsrats zu den Vorwürfen gegen Simon Burger. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Staatsanwaltschaft Zofingen-Kulm hatten sich mit einem Protestschreiben an die Oberstaatsanwaltschaft gewandt, die Regierung hat inzwischen eine externe Untersuchung der Vorwürfe eingeleitet (ZT von gestern). Geführt wird die Untersuchung von Ulrich Weder – der ehemalige Leitende Staatsanwalt des Kantons Zürich soll der Regierung bereits Anfang Juli einen Bericht dazu abliefern.
50 Punkte soll der Beschwerdebrief laut Informationen enthalten – der genaue Inhalt des Schreibens ist bisher allerdings nicht publik geworden. Auf die Frage, ob er die Vorwürfe im Detail kenne und von Weder schon befragt worden sei, wiederholt Simon Burger, dass er sich aufgrund des laufenden Verfahrens nicht äussern könne.
Diese Zeitung hat einen Kenner der Aargauer Strafverfolgung um eine Einschätzung zu konkreten Vorwürfen und zur Arbeit in einer Staatsanwaltschaft generell gebeten. Weil er selber noch im Justizwesen tätig ist, äussert sich der Experte nur anonym.
Burger ist für harte Strafen – aber drängt er auch Mitarbeiter dazu?
Einer der Kritikpunkte im Schreiben von Burgers Mitarbeitern: Der Leitende Staatsanwalt mische sich in Verfahren von Kollegen ein und dränge darauf, ein hohes Strafmass zu verlangen. «Aus meiner Erfahrung kann ich sagen, dass Anklagen im Team behandelt werden», sagt der Justizexperte. Damit wolle man erreichen, dass eine Anklage von der Form und auch von den Strafforderungen her einheitlich daherkomme. Wenn der Staatsanwalt X von einer bestimmten Staatsanwaltschaft eine Anklage verfasst, soll diese nicht anders ausfallen, als wenn sie Staatsanwältin Y von derselben Staatsanwaltschaft verfasst hätte. Der Experte hält es für unwahrscheinlich, «dass ein Leitender Staatsanwalt ständig massiv eingreift und Kollegen dazu drängt, durchweg ein höheres Strafmass zu verlangen».
Burger selber sagte im Januar im ZT-Talk zur Frage nach einem angemessenen Strafmass: «In der Praxis haben wir noch Luft nach oben: Man könnte höhere Strafen ausfällen, vor allem im Bereich der schweren Gewaltdelinquenz.» Strafen sollten auch bessernd auf den Täter einwirken und verhindern, dass dieser weitere Straftaten begehe. «Da würde ich mir manchmal wünschen, dass man konsequenter durchgreift – vor allem bei Leuten, die immer wieder straffällig werden. Dass man ihnen also nicht eine zweite, dritte, vierte, fünfte Chance gibt. Eine zweite Chance auf jeden Fall, von mir aus noch eine dritte. Aber irgendwann muss Schluss sein.»
Zu lange Verfahrensdauer? Zofingen fällt nicht negativ auf
Kürzlich rügte die Beschwerdekammer des Obergerichts die Staatsanwaltschaft Zofingen-Kulm, weil diese ein Verfahren verschleppt hatte (das ZT berichtete). Ein mutmasslicher Sozialhilfe- Betrüger sass elf Monate ohne Anklage in Untersuchungshaft. Ende Mai kritisierte die Kulmer Gerichtspräsidentin die «überlange Verfahrensdauer» bei der Behandlung eines tödlichen Unfalls in Gontenschwil.
Ist das eine zufällige Häufung, oder hat das Team von Simon Burger grundsätzlich Mühe, Strafverfahren effizient und zeitgerecht abzuwickeln? «Nein», sagt Fiona Strebel, Sprecherin der Aargauer Staatsanwaltschaft, «eine solche Auffälligkeit für Zofingen-Kulm gibt es nicht.» Die Staatsanwaltschaft Aargau kenne die Dauer aller Strafverfahren, beobachte die Entwicklung und weise im Jahresbericht die Anzahl der «überjährigen Strafuntersuchungen» aus, erklärt Fiona Strebel weiter. Kantonsweit seien 45 von 1000 laufenden Strafuntersuchungen seit über einem Jahr bei der Staatsanwaltschaft hängig.
«Es gibt viele Gründe, die dazu führen können, dass ein Strafverfahren bei der Staatsanwaltschaft mehr als ein Jahr hängig ist», sagt Strebel. Einige könnten von der Staatsanwaltschaft beeinflusst werden, andere aber nicht. Strafuntersuchungen, die wegen offensichtlicher Untätigkeit der Staatsanwaltschaft überjährig werden, kommen laut der Sprecherin äusserst selten vor.
Arbeit auf andere abgewälzt? Burger macht selber Pikettdienst
Ein weiterer Vorwurf im Schreiben der Mitarbeiter lautet, Burger wälze zu viel Arbeit auf andere ab und sei selber zu wenig präsent. Im ZT-Talk sagte Burger, bei der Staatsanwaltschaft Zofingen-Kulm gebe es einen 24-Stunden-Pikettdienst. Eine Staatsanwältin oder ein Staatsanwalt sei immer abrufbereit, dies während einer Woche. Auch Burger selber leistet als Chef Pikettdienst. «Wenn etwas passiert, werden wir von der Polizei verständigt.» Der Dienst sei immer spannend. «Man weiss nie, was auf einen zukommt.»
Der von dieser Zeitung angefragte Aargauer Justizexperte sieht Einsätze «an der Front» bei Verbrechen als wichtigen Teil dieses Berufs. Der Leitende Staatsanwalt habe zwei Aufgaben: die Führung seines Teams und die Fallführung. «Wie die zeitliche Aufteilung aussieht, dürfte von Person zu Person verschieden sein, grundsätzlich sind beide Aufgaben aber gleich wichtig», sagt er.
Bei der Staatsanwaltschaft Zofingen-Kulm arbeiten derzeit 23 Personen, verteilt auf 1900 Stellenprozent. Im vergangenen Jahr wurden 6631 Strafverfahren erledigt und 6625 Verfahren neu eröffnet, wie Sprecherin Strebel mitteilt. «Die Beurteilung der Arbeitsbelastung einer Staatsanwaltschaft kann nicht alleine aufgrund der Fallzahlen erfolgen», hält sie fest. Die Ressourcenzuteilung an die Staatsanwaltschaften für die Bezirke erfolge auf der Basis ihres Anteils an der Zahl der beschuldigten Personen. Die Arbeitsbelastung der Staatsanwälte dürfte bei allen sechs Staatsanwaltschaften im Aargau (Lenzburg-Aarau, Baden, Zofingen-Kulm, Muri-Bremgarten, Brugg-Zurzach und Rheinfelden-Laufenburg) etwa gleich hoch sein.
Zu viel Politik, zu wenig Arbeit? Experte sieht keine Probleme
Simon Burger ist nicht nur Staatsanwalt, sondern auch Politiker: Für die SVP sitzt er im Einwohnerrat Aarau, zudem präsidiert er die Stadtpartei und kandidierte 2017 für den Stadtrat. «Fast alle Justizfunktionäre – seien es Richter, oder leitende Staatsanwälte – sind in einer Partei», erläuterte Burger im Januar im ZT-Talk. «Wir werden vom Volk oder vom Grossen Rat gewählt. Da spielt Parteienproporz eine Rolle.» Andererseits stelle er fest, dass die Parteizugehörigkeit in der täglichen Arbeit keine grosse Rolle spiele.
Der befragte Aargauer Justizexperte sieht ein politisches Engagement in diesem Fall nicht als heikel an. «Es ist allgemein bekannt, dass Simon Burger als Einwohnerrat in Aarau tätig ist», sagt er. «Ich sehe dies als Nebenamt, das sich mit dem Pensum des Leitenden Staatsanwalts verträgt.»
Einwohnerratsamt und Stadtratskandidatur genehmigt
Staatsanwaltssprecherin Strebel weist darauf hin, dass sich alle Kantonsangestellten öffentliche Ämter und Nebenbeschäftigungen gemäss Personalgesetz vom zuständigen Departement bewilligen lassen müssen. Strebel hält im konkreten Fall fest: «Simon Burger verfügt über die Bewilligung, das Amt eines Einwohnerrats der Stadt Aarau auszuüben.»
Auch die Kandidatur für den Stadtrat Aarau liess sich Burger bewilligen – direkt von Justizdirektor Urs Hofmann, wie er 2017 sagte. Auch bei einer Wahl hätte er Leitender Staatsanwalt bleiben wollen. «Ich sehe keine Interessenskonflikte. Staatsanwalt ist etwas anderes als Stadtrat. Ich würde mein Pensum als Leitender Staatsanwalt entsprechend reduzieren.»
Wie viele Burger-Gegner haben die Beschwerde unterzeichnet?
«Ich bin der Typ, der Nägel mit Köpfen machen will. Ich will gestalten, nicht verwalten.» So beschrieb sich Simon Burger vor drei Jahren. «Ich habe sehr klare Meinungen, stehe zu ihnen und will sie vertreten», sagte er weiter. Dass ein Chef mit diesem Selbstverständnis bei Untergebenen Kritik auslösen kann, scheint unausweichlich.
«Ich kann nicht beurteilen, welchen Führungsstil Simon Burger beruflich pflegt», sagt der Aargauer Justizexperte. Dass sich gewisse Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mit ihrem Chef schwertäten, komme in allen Branchen vor. «Entscheidend ist für mich, wie viele Mitarbeiter die Beschwerde gegen den Leitenden Staatsanwalt unterzeichnet haben», sagt der Fachmann. Ist es die ganze Belegschaft, wie die Aussage von Staatsanwältin Christina Zumsteg nahelegt (Artikel unten)? Oder sind es nur einige wenige, wie eine andere Quelle sagt? Das dürfte zumindest mitentscheidend sein für Simon Burgers Zukunft.
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