
Warum werden Demonstrationen nicht überall gleich behandelt?
Herr Fässler, Sie sind Präsident der kantonalen Sicherheitsdirektoren und Sozialdemokrat. Was machen Sie am 1. Mai?
Fredy Fässler: In normalen Zeiten gehe ich an den Umzug, als Exekutivpolitiker war ich aber als Redner in der Vergangenheit selten gefragt. Das stehen die Gewerkschaften im Vordergrund. Dieses Jahr demonstriere ich nicht. In dieser Situation sollten auch wir Linken grössere Versammlungen möglichst meiden, um Ansteckungen zu verhindern. Allenfalls gibt es Raum für kreative Kleinaktionen. Es besteht aber immer die Gefahr, dass sich Leute anschliessen und es dann doch zu einer grösseren Versammlung kommt.
In Zürich und Bern dürfen nur 100 Personen demonstrieren, in Uri 300. Im Rest der Schweiz zum Teil unbegrenzt viele. Wie erklären Sie das?
Diese Frage hat mir meine Tochter auch gestellt. Sie verstand diese Ungleichheit nicht. Ich habe ihr gesagt, dass es in Zürich und Bern in der Vergangenheit immer wieder gewalttätige Demonstrationen gab und darum die dortigen Behörden andere Mittel benötigen als wir hier in St.Gallen.
Aber gerade in St.Gallen kam es ja an Ostern zu Ausschreitungen.
Das stimmt. Das ist ein relativ neues Phänomen und die Stadt hat auch entsprechend darauf reagiert. Ich kann mich aber nicht zum Polizeieinsatz äussern, weil dafür die städtische Behörde zuständig ist.

Demonstration gegen Coronamassnahmen, am Samstag, 24. April 2021, in Rapperswil: Ohne Bewilligung und ohne Masken.
In Rapperswil ist Ihre Polizei zuständig. Trotz Verbot demonstrierten 4000 Personen ohne Masken oder Abstände.
Die Demonstration in Rapperswil hat mich sehr enttäuscht. Die Polizei stand vor einem unlösbaren Problem. Die Kundgebung wurde verboten und die Polizei wies auch Leute weg, die zugaben, dass sie an die Demo gehen. Andere gaben sich als Kaffeetrinker aus und der Besuch einer Caféterrasse ist erlaubt, also konnte man sie nicht wegweisen. Man hätte natürlich die Demonstration verhindern können. Zum Beispiel mit einer Ausgangssperre und weiträumiger Abriegelung sämtlicher Verkehrsverbindungen den ganzen Tag. Das wäre aber völlig unverhältnismässig gewesen. Hier zeigt sich ein generelles Problem. Es ist unmöglich, grosse Demonstrationen mit verhältnismässigen Mitteln zu verhindern.
In St.Gallen wurde eine Versammlung von Jugendlichen aufgelöst. War das also unverhältnismässig?
In St.Gallen war es anders. Hier ist es zu Gewalt gekommen. Zudem gibt es am Versammlungsort keine Strassencafés. Die Unterscheidung zwischen Versammlungsteilnehmern und Kaffeetrinkern war also einfacher. Wie gesagt, kann ich mich aber nicht konkret zum Polizeieinsatz äussern.

Eine Stadt im Ausnahmezustand: Am 4. April 2021 kontrollierte die Stadtpolizei Jugendliche am Bahnhof aus Angst vor Ausschreitungen.
In St.Gallen ging es um Sachbeschädigungen, in Rapperswil fürchtete man aber um die Gesundheit der Menschen. Ist das nicht wichtiger?
Als abstrakte Überlegung stimmt das schon, aber im konkreten Fall ist es anders. Wenn jemand keine Maske trägt, ist das eine Übertretung. Vergleichbar mit dem Überqueren einer Strasse ohne Fussgängerstreifen. Da greift die Polizei natürlich nicht um jeden Preis ein. Eine Sachbeschädigung ist ein Vergehen und wird härter bestraft, also muss die Polizei unbedingt eingreifen.
Sie sagen, es sei unmöglich, gegen grössere Demonstrationen verhältnismässig vorzugehen. Wie wollen Sie denn erreichen, dass die Regeln durchgesetzt werden?
Wir stehen vor dem gesellschaftlichen Problem, dass ein Teil der Menschen die Coronamassnahmen nicht mehr mitträgt und dagegen rebelliert. Die Polizei kann dieses Problem nicht lösen. Es braucht andere Mittel. Die Sache erinnert mich an die Gewalt im Fussball. Dort funktionierte Repression ebenfalls nicht. Man setzt heute auf Fanarbeit. Für die aktuelle Situation gibt es noch keine solche Lösung. Hoffen wir, dass mit der fortschreitenden Impfung die Situation entschärft wird.