«Ein grosser Schritt für uns»: Wie die Impfung den Alltag dieser zwei Pflegeheimbewohnerinnen verändert hat

Eigentlich wollte die 86-jährige Elisabeth Bollinger ja nicht ins Altersheim. «Ich dachte: Es geht mir ja gut, was will ich da?» Und als sie Anfang dieses Jahres dann doch ging, ins Alterszentrum Blumenheim in Zofingen, sagte sie: «Ich gehe in ein paar Wochen wieder. Ich mache hier nur Ferien.»

Erst einmal dort gefiel es ihr. Das Essen, die Menschen: Das alles passe ihr. «Und dass ich beim Vreni sitzen kann, das passt mir auch.» Diese antwortet prompt: «Mich wundert das, dass ihr das passt.» Bollinger und Verena Klöti, 95, sitzen in der Cafeteria des Blumenheims, durch die grossen Glaswände sieht man den Garten. Beide Frauen lachen.

Es waren schreckliche Bilder, die gezeichnet worden waren. Eingesperrte Menschen, die massenhaft wegstarben. Als «Todesfallen» wurden die Altersheime bezeichnet. Und es war ja auch so: Wenn das Virus in einem Altersheim grassierte, bedeutete das für viele Menschen den Tod. Auch das Blumenheim wurde in der ersten Welle heimgesucht. Elf Bewohner infizierten sich, fünf starben.

Seit den Impfungen wurden die Massnahmen in Heimen gelockert

Ende März hatten alle Aargauer Pflegeheimbewohnerinnen, die dies wünschten, ihre zweite Impfung erhalten. Seither stirbt zumindest in den Heimen niemand mehr an Corona.

Auch Verena Klöti und Elisabeth Bollinger haben sich impfen lassen. Dabei habe sie das zu Beginn gar nicht gewollt, so Klöti. Sie sagt: «Ich habe mich mein Leben lang noch nie impfen lassen. Und ich wusste nicht: Greift die Impfung meinen Körper an?»

Nach Gesprächen mit dem Personal entschied sie sich dann doch für den Pieks. Hauptsächlich, um wieder ihre Familie treffen zu können.

Seit alle Bewohner, die das wünschen, geimpft sind, wurden die Regeln für die Pflegeheime im Aargau gelockert. Auch wenn das nie öffentlich kommuniziert wurde. Es habe ein Paradigmenwechsel stattgefunden, sagt André Rotzetter, Präsident vom Pflegeheimverband. «Vom Verständnis her leben die Bewohnerinnen und Bewohner der Altersheime in einer Institution. Jetzt werden die Heime als ihr Zuhause betrachtet.» Und es gelten neu ähnliche Regeln wie auch überall sonst in einem Zuhause. Auch wenn jedes Pflegeheim natürlich selbst entscheiden kann, wie es diese genau umsetzt.

Für das Blumenheim bedeutete dieser Schritt massive Lockerungen. Denn lange Zeit hatte das Heim ein sehr restriktives Besuchsrecht. Einfach so hinein kam niemand. Jede Bewohnerin konnte drei bis vier Kontakte angeben, nur diese durften dann noch zu Besuch kommen.

Den Bewohnern zuliebe hätte man das gemacht, sagt Heimleiterin Irma Jordi. Denn durch diese Massnahmen galt das Heim nicht mehr als öffentlich zugänglich – mit der Folge, dass die Bewohner keine Masken tragen mussten. «Wir haben viele Demenzkranke hier, die gar keine Maske tragen können. Ich wollte den Menschen unbedingt ersparen, den ganzen Tag Masken tragen zu müssen», sagt Jordi.

Bewohner können wieder Geburtstage feiern

Und nun sind also wieder Besuche für alle möglich, bis zu zwei aufs Mal, jeweils für eine Stunde. Und das Umdenken im Aargau bedeutete noch weitere Lockerungen. Verena Klöti feierte kürzlich ihren 95 Geburtstag. Noch vor einem Jahr war gerade das Virus im Heim und Klöti «feierte» alleine in ihrem Zimmer. Nun kamen all ihre Kinder mit Partner zu Besuch, im Garten gab es Kaffee und Kuchen. Es war das erste Mal seit über einem Jahr, dass sie wieder alle aufs Mal traf. «Das war so schön. Man muss an den kleinen Schritten Freude haben. Und das ist ein grosser Schritt für uns.»

Elisabeth Bollinger war über Ostern erstmals, seit sie ins Heim gezogen war, wieder bei ihren Kindern zu Hause. Noch vor der Impfung hätte sie danach in Quarantäne müssen – was es praktisch verunmöglichte, das Heim zu verlassen.

Keine Angst vor dem Virus – Sorgen macht man sich um die anderen

Es ist schon bemerkenswert: Immer wieder liest man, wie schlimm es die «Alten» hätten, wie sie eingesperrt würden, wie sie besonders unter der Pandemie leiden würden. Und immerhin werden sie von dieser Krankheit auch besonders bedroht. Und trotzdem sitzen Klöti und Bollinger in dieser Cafeteria und sind einfach zufrieden.

Klar, ihnen fehlte der Kontakt zu anderen Menschen. Bollinger lebte 2020 noch alleine in ihrer Alterswohnung und traf praktisch gar niemanden mehr. Klöti lebte während des Ausbruchs schon im Heim und durfte damals einige Wochen das Zimmer nicht verlassen, während mit dem Essen jeweils die Todesanzeigen aufs Zimmer gebracht wurden.

Trotzdem, Sorgen machten und machen sich die beiden vor allem um andere: Um das Personal, das in der ersten Welle arbeitete, während die Bewohner auf ihren Zimmern waren. Um die eigenen Kinder, die auch schon über 60 sind und noch nicht alle geimpft sind. Ja, sogar um den Journalisten, der halt auch meistens in seinem Homeoffice sitzt, und ob er denn nicht vereinsame.

Ob sie sich denn nicht auch um sich selbst Sorgen machen würden? Nein, sagt Bollinger. «Wir haben die Regeln eingehalten und zueinander geschaut.» Auch Klöti verneint: «Wir mussten die Situation einfach annehmen.»

Und eingeschränkt werden beide zwar, aber von ihrer Gesundheit viel mehr als von den Massnahmen. «Ich mag gar nicht mehr so. Mehr als eine Person aufs Mal zu Besuch zu haben, ist mir auch schnell einmal zu viel», sagt Bollinger. Und Klöti ergänzt: «Es ist jetzt einfach so. Wir leben immer noch in der Schweiz, wir haben gutes Essen, werden gepflegt und haben uns gegenseitig. Wir haben es wirklich gut.»