
Fernreisen rücken in die Ferne: Schon wieder heisst es «Switzerland first» – wo es zum Ansturm kommt
Plötzlich waren alle Patrioten. Als die Pandemie vor einem Jahr den Ferienplänen im Ausland einen Strich durch die Rechnung gemacht hat, begannen viele Schweizer das eigene Land zu entdecken. Denn Udo Jürgens, der verstorbene Wahl-Zürcher, sang zwar einst, dass er noch niemals in New York gewesen war. Doch viele Deutschschweizer hatten noch nie den Jet d’Eau in Genf gesehen, und viele Romands kannten die Luzerner Kappellbrücke oder den Bodensee nur von Fotos.
Die erzwungenen Zu-Hause-Ferien erfüllten nicht wenige Einheimische mit Stolz. Schliesslich half man den leidgeplagten Hotelbetrieben, die wegen den fehlenden Chinesen, Deutschen und Amerikanern leere Betten zu beklagen hatten. Da genoss man gerne Ghackets mit Hörnli mit einem «Feldschlösschen» statt Pad-Thai-Nudeln mit einem «Singapore Sling». Mit der Folge, dass manche Destinationen etwa im Tessin überfüllt waren und man sich glücklich schätzen musste, am Abend Platz im Grotto zu finden.
Das Edelweiss-Feeling hat ausgedient
Und ein Jahr später? Das Edelweiss-Feeling hat ausgedient. Das Fernweh macht sich bei vielen Ferienhungrigen bemerkbar. Im persönlichen Umfeld fallen Sätze wie: «Ich habe die Schweiz letztes Jahr genügend entdeckt, jetzt will ich endlich wieder an den Strand im Süden!» Auch ein kurzer Oster-Städtetrip nach Paris, in die Stadt der Liebe, wäre reizvoll. Oder ins hippe Berlin, ins mondäne London.
Aber eben. Die Pandemie ist noch nicht vorbei. Immer wieder tauchen neue Corona-Mutationen auf, so wie zuletzt aus Brasilien. Ein international einheitlicher Impf-Reisepass ist noch nicht vorhanden. Und das Bundesamt für Gesundheit ändert regelmässig die Liste der Länder, deren Besuch mit einer Quarantänepflicht verbunden ist.
USA nicht mehr auf BAG-Liste – nur nützt das wenig
Ab dem 5. April gilt diese etwa auch für die bei Schweizern beliebte Feriendestination Griechenland, für Tansania, Paraguay und Jamaika. Letzteres ist speziell bitter für die Schweizer Ferienairline Edelweiss, die dieses Jahr den Inselstaat erstmals ab Zürich anfliegt. Im Gegenzug ist die französische Region Nouvelle-Aquitaine genauso von der Liste verschwunden wie die italienische Apulien-Region, die Länder Irland, Katar, Litauen, St. Lucia, England und die USA.
Die USA erlebten in den letzten Jahren einen Boom von Schweizer Touristen. Fliegen nun die Schweizer wieder nach San Francisco und New York? Eher nicht. Denn nach wie vor ist die Einreise für Schweizer aus touristischen Gründen nicht möglich. Verschiedene Medien berichteten diese Woche zwar, dass US-Präsident Joe Biden eine Lockerung der Einreisebestimmungen für Europa auf Mitte Mai anstrebt.
Allerdings gibt es keine offizielle Bestätigung dafür, und die US-Administration mache die Verfügbarkeit der Impfstoffe zum Kriterium, berichtet «Forbes». Ob die Schweiz in knapp zwei Monaten diese Kriterien erfüllt, scheint mehr als unsicher. Von einem Reiseboom ist denn auch noch nichts zu spüren. Die Zahl der Flüge am Flughafen Zürich bewegt sich aktuell weiterhin auf einem historisch tiefen Niveau von etwa 20 bis 30 Prozent des Vorkrisenzustands.
«Das grosse Ostergeschäft bleibt definitiv aus»
«Es fühlt sich an, als wäre die halbe Welt zu», sagt Walter Kunz, Geschäftsführer des Schweizer Reise-Verbands, dem rund 680 Reisebüros angehören, darunter auch Hotelplan, Kuoni und Tui Suisse. Noch immer würden die Kunden «extrem kurzfristig» buchen, da sich die Situation ständig ändere. «Das grosse Ostergeschäft bleibt definitiv aus.» Zurzeit würden die Umsätze bei den Mitgliedern zwischen 10 bis 15 Prozent gegenüber 2019 liegen.
«Wenn der Bund Portugal und Spanien von seiner Quarantäne-Liste nimmt, gibt das zwar einen gewissen Buchungsschub», sagt Kunz. Aber diesen gelte es zu relativieren. «Statt bei 10 Prozent liegen die Buchungen dann übers Ganze gesehen vielleicht bei 12 Prozent.» Komme hinzu, dass die Airlines auf die Schnelle auch nicht immer die vollen Kapazität anbieten können, um den plötzlichen Nachfrageboom zu decken.
«Wenn wir in dieser Sommersaison 50 Prozent des Vorkrisenniveaus erreichen, wäre ich glücklich», sagt Kunz. Ob es soweit komme, hänge ganz allein von der BAG-Liste und vom Impf-Tempo ab. «Die Mehrheit der Kunden dürfte darauf warten, bis sie geimpft sind und ohne Restriktionen wieder in ein Flugzeug steigen können, ohne Quarantäne und ohne Coronatest.»
Bei den Sommerbuchungen herrscht Zurückhaltung
Bis es soweit ist, dürfte es gemäss Schweizer Impfplan allerdings noch einige Monate dauern. Diese Erkenntnis macht sich bei den Buchungen für die bevorstehenden Oster- und Frühlingsferien bemerkbar, wie eine Umfrage bei Schweizer Tourismusverbänden zeigt. So heisst es vorläufig auch dieses Jahr wieder: Switzerland First.
Andreas Züllig, Präsident des Branchenverbands Hotelleriesuisse und Inhaber des Hotels Schweizerhof auf der Lenzerheide, sagt, der Trend des letzten Jahres mit Heimatferien von Schweizern habe sich bis jetzt bestätigt. Über Ostern sei die Nachfrage in den Bergregionen und im Tessin erfreulich gut. Und für die Frühlingsferien läge sie auf dem Vorjahresniveau. Einzig im Hinblick auf den Sommer spüre man eine Zurückhaltung. «Viele warten wohl ab, ob eine Reise in den Süden dieses Jahr wieder möglich ist», sagt Züllig.
Vier Mal mehr Buchungen von Schweizern
Im Tessin sind laut Züllig manche Hotels für Ostern bereits ausgebucht. Für die Bergregionen schätzt der Verbandspräsident die Auslastung auf durchschnittlich 70 bis 75 Prozent, je nach internationaler Ausrichtung höher oder tiefer. «Lenzerheide und Saas Fee eher höher, Davos und Zermatt eher tiefer.» Der Schweizer Ferienwohnungsvermittler Interhome, eine Migros-Tochter, verzeichnet für April und Mai gar vier Mal mehr Schweizer Buchungen als 2019.
Während Swiss und Co. also ihre Flugzeuge mehrheitlich weiterhin am Boden halten müssen, bereiten sich die SBB auf den einheimischen Ansturm vor. Rund ein Dutzend Extrazüge fahren allein über Ostern ins Tessin und zurück. Zudem würden auch auf anderen Strecken Züge verlängert oder zusätzliche eingesetzt, um den Ansturm zu bewältigen, sagt eine Sprecherin. Das System droht an seine Grenzen zu stossen: «Wir können trotz dieser Massnahmen nicht ausschliessen, dass es in Einzelfällen oder im Störungsfall zu hohen Frequenzen auf einzelnen Zügen kommen kann.»
Mehr Kapazitäten für Velofahrende
Wenn viele Passagiere erwartet werden, will die SBB zusätzliches Personal aufbieten, das die Reisenden lenken soll. Zudem werden Mitarbeiter an verschiedenen Standorten den Kunden beim Verlad von Velos helfen. Auf Linien wie Bern-Brig oder Zürich-Chur verdreifachen die SBB die Kapazität für den Veloverlad in Spitzenzeiten. Diesmal will die Bahn vorbereitet sein, nachdem sie im letzten Sommer noch vom Veloboom überrollt wurde.
Doch nicht überall läuft es rund. Während die Berg- und Seeregionen relativ glimpflich davon kamen, litten die Grossstädte. Allen voran Genf. Rund 68 Prozent betrug das Minus bei den Logiernächten im Vergleich zum Vorjahr. Ohne die ersten zweieinhalb Monate, in denen das Geschäft normal lief, wäre der Einbruch noch deutlicher ausgefallen. «Ich mache mir keine grossen Hoffnungen, weder im Hinblick auf Ostern noch auf das restliche Jahr», sagt Thierry Lavalley, Direktor des Fünf-Sterne-Hotels Fairmont mit Blick auf das Genfer Seebecken. «Die urbane Hotellerie wird auch 2021 eine minimale Auslastung haben.» Solange nicht alle geimpft oder immun seien, bevorzuge die Mehrheit eine Auszeit in der Natur und nicht in einer dichten Stadt. Dabei biete Genf so viel mehr.
Schweiz Tourismus will für die Städte werben
Die nationale Tourismus-Marketingorganisation Schweiz Tourismus will denn auch die nationale Klientel dieses Jahr für ein Umdenken sensibilisieren –im Hinblick auf die Sommerferien. «Unser Ziel ist die Bewerbung der Schweizer Städte als ideale Reiseziele.» Denn 2020 hätten Einheimische zwar durchaus die Schweiz als Ferienland entdeckt, jedoch beschränkten sich die Entdeckungsreisen auf die Berggebiete. Ob das reicht, ist fraglich. Nicolo Paganini, Präsident des Schweizer Tourismus-Verbands, weist auf die hohe Verschuldung vieler Betriebe hin. Der Bund müsse zusätzliches Geld sprechen.
Doch ob es gelingt, dass Genf Paris bei der Buchung aussticht, wenn ein einfacheres Reisen wieder möglich ist? Hoteldirektor Lavalley ist skeptisch. «Die meisten Deutschschweizer denken bei Genf bloss an die UNO und Banken, aber nicht an die wunderschönen Pärke, die Altstadt und den See. Es ist einfacher, einen Singapurer nach Genf zu locken als einen Berner.» Die Rhone-Stadt werde auch künftig von der internationalen Klientel abhängen, und diese werde erst nächstes Jahr zurückkehren.