
Vreni Kunz-Kuratle aus Langnau: «Ich konnte als einzige Frau Autofahren»
Frauen Reiden
Der Verein «Frauen Reiden» besteht seit dem 5. Mai 2012 und wurde aus dem reformierten Frauenverein Reiden und Umgebung und der katholischen Frauen- und Müttergemeinschaft Reiden geformt. Ersterer wurde 1919 und zweitere 1892 gegründet. Geplant war, dass auch der Gemeinnützige Frauenverein Reiden sich mit den anderen beiden zusammenschliessen würde. Doch an der Generalversammlung vom Mai 2010 wurde das Projekt zurückgewiesen. Der Verein «Frauen Reiden» ist sozial engagiert, ökumenisch ausgerichtet und offen für Frauen jeden Alters, Standes oder Nationalität.
Die Schweiz feiert. Vor 50 Jahren nahm sie das Frauenstimmrecht an der Urne an. Der Kanton Luzern führte nebst den Kantonen Wallis und Zürich das Frauenstimmrecht sogar ein Jahr früher ein. Vreni Kunz-Kuratle (68) hat mit 18 Jahren die Abstimmung um das Frauenstimmrecht in der Schweiz hautnah miterlebt. Die gebürtige Toggenburgerin und dreifache Mutter ist langjähriges Mitglied des Vereins «Frauen Reiden». Ihr Ehemann Hans Kunz ist Gemeindepräsident von Reiden. Das Paar wohnt in Langnau.
Frau Kunz, wie feiern Sie morgen das 50-Jahr-Jubiläum des Frauenstimmrechts in der Schweiz?
Vreni Kunz-Kuratle: Ich habe nichts Konkretes geplant. Im Moment ist das ja so eine Sache mit dem Treffen. In meinem Umfeld sind viele ältere, vorsichtige Leute. Ausserdem arbeite ich noch im Gesundheitswesen, wo wir wegen Covid-19-Erkrankungen immer wieder umplanen müssen.
Sie sind mit bald 68 Jahren noch immer arbeitstätig?
Ja, ich bin Pflegefachfrau im Feldheim Reiden. Kürzlich hatte ich mein 30-Jahr-Jubiläum. Ich arbeite Teilzeit, es bereitet mir immer noch Freude.
Wie haben Sie die Abstimmung 1971 erlebt?
Ich war damals 18 Jahre und absolvierte zuerst einen Sprachaufenthalt und danach eine Ausbildung zur Krankenschwester in St. Gallen. In der Familie, bei der ich in St. Gallen lebte, haben wir das nicht so thematisiert.
Also ging die Abstimmung einfach an Ihnen vorbei?
Nein, ich habe mit allen aus meinem Umfeld darüber geredet. Die wenigen Männer, die ich damals kannte, habe ich aufgefordert, abstimmen zu gehen, so zum Beispiel meinen Vater und Mitarbeiter im elterlichen Geschäft. Es war sehr wichtig für mich. Die gleichaltrigen Kollegen konnten noch nicht abstimmen, stimmberechtig war man erst mit 20.
Mobilisierten viele Frauen ihr Umfeld so wie Sie?
Ich habe einige erlebt, die mir gesagt haben, dass sie das Stimmrecht nicht bräuchten. Das habe ich überhaupt nicht verstanden. Das kann doch nicht egal sein! Ich habe deshalb vermehrt Freundinnen mobilisiert und sie angehalten, Zuhause darüber zu reden.
Apropos Zuhause: Welche Meinung vertrat Ihr Vater?
Wir waren drei Töchter. Unser Vater hat immer gesagt, dass das Geschlecht keine Rolle spiele. Meine Schwestern wurden Konditorinnen, was damals noch ein Männerberuf war. Meinen Vater hat es gefreut.
Wie sind Ihre eigenen drei Kinder aufgewachsen?
Ich habe dieses Gedankengut an meine Kinder weitergegeben. Wir hatten viele schöne Diskussionen über Politik. Immerhin ging es dann einmal um etwas anderes als Schule, Fussball, Pfadi oder das Geschäft (lacht). Auch den Stimmzettel haben wir vielfach gemeinsam ausgefüllt. Heute noch kommt es vor, dass sich eines der Kinder bei meinem Mann meldet, um mit ihm über die bevorstehende Abstimmung zu diskutieren.
Wieso melden sie sich nicht bei Ihnen?
Mein Mann ist politisch sehr interessiert. Er kam 1983 als jüngster Politiker in den Kantonsrat. Ich war nie gross politisch aktiv. Aber auch ohne an der Front zu sein, konnte ich mit Dialogen aktiv mitwirken. Auch wenn sich meine Kinder diesbezüglich häufiger bei ihm melden, fühle ich mich meinem Mann gleichwertig. Wenn ich mich Mal unfair behandelt fühle, fordere ich es einfach ein.
Wie meinen Sie das?
Als ich 1983 für den Vorstand des reformierten Frauenvereins Reiden angefragt wurde, war ich mit unserem zweiten Kind schwanger. Zuerst wollte ich absagen, doch dann habe ich mir gesagt: So viel Zeit muss sein. So ein Engagement für Frauen will ich leisten. Ausserdem war ich die einzige im Vorstand, die Autofahren konnte. Alle anderen hatten es verpasst, Autofahren zu erlernen. Es sei genug, wenn der Mann die Autoprüfung hätte. Das waren halt noch andere Zeiten.
Sie waren also damals bereits eine Feministin.
Ja, das würde ich sagen. Als ich neu nach Langnau zog, kannte ich ausser der Familie meines Mannes nur wenige Leute. Manchmal wollte ich nach dem Kennenlernen meine neue Bekanntschaft anrufen und suchte sie deshalb im Telefonbuch. Viele waren nicht einmal eingetragen, nur der Ehemann. Das geht doch nicht, das habe ich ihnen auch gesagt. Eine ähnliche Situation ergab sich nach der Geburt meines ersten Kindes. Eine Arztgehilfin fragte mich nach meinem Beruf. Als ich ihr sagte, dass ich Krankenschwester sei, versicherte sie mir, dass ich mit einem Kind bald nur noch Hausfrau sein würde. Das kam für mich nicht in Frage.
Sind sie heute stolz auf das Frauenstimmrecht oder eher frustriert, weil es so lange gedauert hat?
Stolz bin ich vor allem auf die Vorreiterinnen, die jahrelang dafür gekämpft und nie aufgegeben haben. Aber ja, grundsätzlich hat es viel zu lange gedauert. Mir war damals gar nicht bewusst, dass wir in der Schweiz fast die einzigen waren, die das Frauenstimmrecht noch nicht eingeführt hatten! Das müsste doch eigentlich eine Selbstverständlichkeit sein. Auch deshalb lief ich am Frauenstreik 2019 in Luzern mit.
Welche Gedanken gingen Ihnen nach der Abstimmung 1971 durch den Kopf?
Ich habe mich gefreut, in Zukunft selber abstimmen zu dürfen. Aber wenn ich recht überlege war es schlimm, dass nur Männer darüber bestimmen durften.
Welchen Rat geben Sie den heutigen Frauen auf den Weg?
Ich rate allen, die Mutter werden, trotzdem ein Bein in der Arbeitswelt zu behalten. Heute ist es viel schwieriger als früher, alles unter einen Hut zu bringen, das ist mir bewusst. Viele Frauen antworten mir, dass das Geld, das sie mit ihrer Teilzeitbeschäftigung verdienten, direkt in die Kinderbetreuung fliesse und dass es sich deshalb nicht lohnen würde, wenn sie arbeiten. Ich finde, in dieser Situation sollte man nicht nur des Lohnes wegen arbeiten gehen, sondern um am Ball zu bleiben. Das sollte es einem wert sein.
Ist heute alles besser für die Frauen als früher?
Es gibt durchaus Sachen, die besser sind. Aber auch heute müssen wir weiterkämpfen. Es gibt immer noch Unrecht und Diskriminierung an vielen Orten. So beispielsweise bei der Pensionskasse von Frauen, die einen Grossteil ihres Lebens Teilzeit gearbeitet haben. Es gibt viele Frauen, die im Moment auf das Geld angewiesen sind, jedoch nur so angestellt werden, dass sie den Jahreslohn von 21 510 Franken nicht erreichen und somit keine Pensionskassenbeiträge einbezahlt werden müssen. Sie sitzen sozusagen in der Falle. Dies rächt sich dann nach der Pensionierung! Das passiert den Männern sicher weniger.
Was sagen Sie Frauen, die sich im 21. Jahrhundert hinter den Herd stellen und «nur» Hausfrau und Mutter sind?
Macht das, es ist eure Freiheit.