100 Dosen Hoffnung: Hausarzt Hurni wird zum Christkind, das schwierige Entscheidungen treffen muss

Es geht schon länger stressig zu in der Hausarztpraxis von Rainer Hurni, Badenerstrasse, Kreis 4, Zürich. Die Pandemie hält das kleine Team seit Monaten in Atem, sogar einen eigenen Raum für Coronapatienten gibt es. In der Praxis nennen sie es nur das «Seuchenzimmer». Auch an diesem Tag war viel los, doch jetzt steht die Praxisassistentin im Türrahmen und ist kein bisschen müde, sie strahlt über das ganze Gesicht, man sieht es trotz Maske. «Ich durfte heute das Christkindli spielen», sagt sie, und dann, dass die Leute sich noch nie so gefreut hätten über ihren Anruf wie heute, wo sie den Impftermin definitiv mitgeteilt hat.

Rainer Hurni gehört zu den 165 auserwählten Zürcher Hausärzten, denen diese Woche wertvolle Fracht in die Praxis geliefert wird: 100 Dosen des Moderna-Impfstoffs. Weil der leichter zu lagern ist als jener von Pfizer-Biontech, können jetzt auch die Hausärzte stärker in die Impfkampagne einbezogen werden. Der Kanton Zürich beliefert seine Hausärzte als einer der Ersten mit dem Stoff, auf den gerade das ganze Land wartet.

Wer gehört zu den 100 Auserwählten?

Hurni, 63 Jahre alt, Stirnglatze, wird am Donnerstag seinen ersten Piks setzen. Er freut sich darauf, weil er nun nicht mehr nur Trost spenden kann. Sondern auch Hoffnung. Doch die letzten Tage waren für Hurni nicht leicht. Er sagt:

Hurni hat zwar bald 100 Impfdosen in seiner Praxis. Aber er hat viermal mehr Patienten, die über 75 Jahre alt sind oder an einer schweren Vorerkrankung leiden – also die Kriterien erfüllen, um in der Gruppe jener zu landen, die als Erste geimpft werden sollen.

Wen zuerst vor Covid-19 schützen, wen warten lassen? Diese Frage hat Hurni umgetrieben. Sie wird sich in den nächsten Wochen noch vielen anderen Hausärzten im ganzen Land stellen. Denn der Impfstoff bleibt vorderhand so knapp, dass er auch für Menschen mit dem höchsten Risiko nicht ausreicht. In Hurnis Kanton, Zürich, leben 240’000 Hochrisikopatienten. Impfstoff ist bis Ende Februar nur für 130’000 verfügbar.

Der Moderna-Impfstoff lässt sich leichter lagern.

Der Moderna-Impfstoff lässt sich leichter lagern.

© KEY

Der Doktor setzt sich an seinen Computer, nach ein paar Klicks geht ein Fenster auf, es zeigt eine lange Reihe violetter Felder: die Impftermine. Startschuss ist am Donnerstagmorgen, acht Uhr. Bis am Abend sollen dann 50 Patienten geimpft sein. Als Hurni wusste, dass er bald impfen kann, begann er, mit seinen Patienten darüber zu sprechen. Er machte eine erste Liste, auf denen alle landeten, die sich impfen lassen wollen. Dann machte er sich an die zweite Liste: jene der 100 Auserwählten. Das wahre Christkind war nicht die Praxisassistentin. Sondern Rainer Hurni.

Wie macht man das, auswählen, wer zuerst vor einer Krankheit geschützt werden soll, die tödlich enden kann? Und was macht es mit einem? Hurni kennt die Kriterien der Eidgenössischen Kommission für Impffragen. Doch er sagt auch, dass sie das Werk von Theoretikern sei. Er sagt: «Meine Aufgabe ist es, sie mit Leben zu füllen.

Konkret versteht er darunter, dass neben dem Alter und den Vorerkrankungen die Lebensumstände mit einfliessen in die Entscheidung, wer auf die erste Impfliste kommt. Muss die Patientin selbst einkaufen gehen? Wird der Patient von einer Angst vor Corona fast erdrückt? Macht es Sinn, die hochdemente Patientin als eine der Ersten zu impfen? Wem hilft die Impfung unmittelbar weiter, um ein besseres Leben zu führen? Es sind solche Gedanken, die sich Hurni gemacht hat.

Am Donnerstag wird als Erste eine Frau geimpft, 74 Jahre alt zwar erst, aber mit Herzproblemen und einer schweren Angststörung. Die Psyche, sagt Hurni, habe ihn immer besonders umgetrieben, er hat viele Patienten, die etwa an Depressionen leiden. Solche Erkrankungen gewichtet er mit, weil er findet, dass man sie unbedingt auch berücksichtigen muss. Als zweiter Patient steht ein schwerer Epileptiker mit Lungenproblemen auf der Liste, dann eine Frau über 80 mit Gefässkrankheiten und ihr Mann.

Er kennt die Patienten nicht beim Namen, aber beim Zustand

Hurni, der schon seit 30 Jahren als Hausarzt praktiziert, hat die Praxis an der Badenerstrasse vor fünf Jahren eröffnet. Im Eingangsbereich steht eine grosse Empfangstheke, in einer Ecke ein kleiner Tisch für Kinder. 4000 Patienten, schätzt Hurni, hat er bisher behandelt. Manche sind nur einmal vorbeigekommen, doch die meisten tun das öfter.

Vom eritreischen Flüchtling über die Familie mit Kleinkindern bis zum SVP-Wähler, sagt Hurni, sei alles dabei. Seine Kunden sind ein Abbild der Stadt, die sich hinter der Glastüre ausbreitet. Wer öfter vorbeikommt, den kennt er. Nicht immer beim Namen, da ist er nicht so gut. Aber beim Zustand. Und zwar in vielen Fällen beim gesundheitlichen wie beim sozialen.

Philippe Luchsinger, Präsident der Schweizer Hausärzte.

Philippe Luchsinger, Präsident der Schweizer Hausärzte. © Pressedienst

Für Philippe Luchsinger ist das der Grund, warum die Hausärzte bei der Priorisierung der Impfungen eine entscheidende Rolle spielen müssen. Luchsinger ist der Präsident der Schweizer Hausärzte. Er sieht es nicht gerne, dass manche Kantone die Termine online vergeben. Denn dort gilt das Recht des Schnelleren. Er sagt: «Für eine faire Verteilung der ersten Impfdosen braucht es die Hausärzte, weil nur sie neben der Gesundheit auch die Lebensumstände berücksichtigen können.»

Rainer Hurni hat in den letzten Tagen viele Patienten vertrösten müssen. Andere wiederum hat er angerufen, obwohl sie sich nicht gemeldet haben – weil er findet, dass sie eigentlich zu den Ersten gehören müssten, die geimpft werden. Er ist dabei zuweilen auf eine gewisse Skepsis gestossen. Er sagt seinen Patienten dann, dass die Impfungen in der Medizinhistorie eine einzige Erfolgsgeschichte seien. Manchmal funktioniert das, manchmal auch nicht. Hurni hofft, dass das bald besser wird, weil immer mehr Menschen geimpft wurden. Er hat vor allem einen Wunsch: das Seuchenzimmer bald zusperren.