Bundesrätin Amherd und die Armee sollen es richten: Nationalrat Martin Bäumle fordert Massenimpfungen

Seine Welt sind die Zahlen und Naturwissenschaften. Seit dem Frühling befasst sich Martin Bäumle, Atmosphärenwissenschafter und GLP-Nationalrat aus dem Kanton Zürich, intensiv mit dem Coronavirus. Soeben hat er sein vor Monaten entwickeltes eigenes Modell publiziert, das eine fast tagesaktuelle Einschätzung zum Infektionsgeschehen erlaubt.

Martin Bäumle, Israel impft 150’000 Personen pro Tag, im Kanton Zürich stehen bis Ende Januar bloss Impfdosen für 18’000 Personen zur Verfügung. Was geht Ihnen durch den Kopf?

Martin Bäumle: Ich bin erstaunt und enttäuscht. Seit April wissen wir, dass wir der Pandemie nur mit einer Impfung in den Griff bekommen werden. Sie ist der Schlüssel zu einer Rückkehr zur Normalität. Der Bund und die Kantone handeln einmal mehr zu langsam und zu spät – wie bei den Massnahmen gegen die zweite Welle.

Was erstaunt Sie?

Israel macht vor, wie man es mit einer geeigneten Logistik schafft, innert kurzer Zeit möglichst viele Menschen zu impfen. Der Bund und die Kantone sind trotz genügend Zeit für eine adäquate Vorbereitung schwach unterwegs. Ich bin erschrocken, als das Bundesamt für Gesundheit sagte, die Schweiz könne bis zu 70’000 Personen pro Tag impfen. Das ist zu wenig. So würde es bis in den Sommer dauern, bis das ganze Land geimpft ist.

Impfstart in der Schweiz am 4. Januar 2021: Schauspieler Walter Andreas Müller wird in Zürich gegen Corona geimpft.

Impfstart in der Schweiz am 4. Januar 2021: Schauspieler Walter Andreas Müller wird in Zürich gegen Corona geimpft.

© Keystone

Was enttäuscht Sie?

Der Bund hat die Beschaffung des Impfstoffs ungenügend geplant. Die Bestellung für den jetzt zugelassenen Impfstoff von Biontech/Pfizer gab er am 9. Dezember auf, viel zu spät. Deshalb haben wir jetzt zu wenig Impfdosen zur Verfügung und hinken anderen Ländern hinterher. Zum Glück hat die Schweiz beim noch nicht zugelassenen Impfstoff von Moderna einigermassen rechtzeitig gehandelt.

Der Bund wäre aber ein grosses finanzielle Risiko eingegangen, wenn er voreilig bei vielen Herstellen Impfstoff bestellt hätte.

Im schlimmsten Fall wären die Ausgaben für Vorreservierungen wirkungslos verpufft. Meiner Meinung nach hätte der Bund dennoch schon in einer frühen Testphase der Impfstoffe Vorverträge mit 10 aussichtsreichen Kandidaten abschliessen sollen, damit beim Durchbruch möglichst rasch genügend Impfstoff zur Verfügung steht. Die Kosten für die Vorreservierungen stehen in keinem Verhältnis zu den Milliardenausgaben, welche die Massnahmen zur Eindämmung des Coronavirus verursachen.

Hat der Bund versagt?

Die Beschaffung des Impfstoffs ist auf jeden Fall Bundessache. Hätte er seine Hausaufgaben gemacht, könnte die Schweiz bis Ende März bei einer sauberen Organisation praktisch die ganze Bevölkerung durchimpfen. Sie könnte die teuren Anticoronamassnahmen, die Milliarden kosten, lockern, und hätte einen riesigen Gegenwert. Hätte die Schweiz Anfang Jahr tatsächlich zu viele Impfdosen gehabt, hätte sie diesen zum Beispiel als humanitären Akt billig oder gratis zum Beispiel an Entwicklungsländer abgeben können.

Was erwarten Sie jetzt vom Bund?

Zunächst hoffe ich, dass der Impfstoff von Moderna bald die Zulassung erhält. Zu diesem sollte die Schweiz ja rascher und in grösseren Mengen Zugang haben. Dann verlange ich, dass der Bund generalstabsmässig Massenimpfungen plant. Verteidigungsministerin Viola Amherd sollte den Lead an sich reissen und die Armee beauftragen, die Logistik sicherzustellen. Die Armee verfügt über das nötige Know-how und könnte zum Beispiel in Kasernen Impfzentren aufbauen. In einem ersten Schritt sollten so pro Tag 100’000 Impfungen durch Gesundheitspersonal durchgeführt werden, später dann 200’000.

Soll den Lead an sich reissen, wenn es nach Bäumle geht: Verteidigungsministerin Viola Amherd.

Soll den Lead an sich reissen, wenn es nach Bäumle geht: Verteidigungsministerin Viola Amherd.

© Keystone

Das ist ein sportliches Ziel.

Israel zeigt, dass es geht. Ich hoffte, auch der Bund und die Kantone seien auf ein solches Szenario vorbereitet. Ich wäre abermals enttäuscht, wenn die Behörden das nicht schaffen würden.

Ende Oktober nahmen Sie nicht an der Sondersession des Parlaments teil, weil Sie das Ansteckungsrisiko als zu gross erachtet haben. Sollen sich Parlamentarier zwingend impfen, damit sie an der Session teilnehmen können?

Diese Frage muss das Parlament selber beantworten. Ich könnte mit einer solchen Regelung leben. Ernsthaft kann man dieses Thema aber erst diskutieren, sobald genügend Impfstoff für die ganze Bevölkerung vorhanden ist. Die Bevölkerung würde es nicht verstehen, wenn die Parlamentarier privilegierten Zugang zum Impfstoff hätten.

Werden Sie sich impfen lassen?

Selbstverständlich. Wir sollten eine Vorbildfunktion übernehmen und uns impfen lassen, sobald ausreichend Impfstoff vorhanden ist. Wir müssen transparent auf die Nebenwirkungen hinweisen, doch auch klar sagen, dass Langzeitschäden sehr unwahrscheinlich sind.

Wird sich «selbstverständlich» impfen lassen: Martin Bäumle. (Archivbild)

Wird sich «selbstverständlich» impfen lassen: Martin Bäumle. (Archivbild)

© Emanuel Per Freudiger

Die aktuellen Verschärfungen sind bis am 22. Januar befristet. Sehen Sie Spielraum für Lockerungen?

Dafür sind die Fallzahlen aktuell zu hoch. Wir sollten eher noch die eine oder andere zusätzliche Massnahme einführen, um die Verbreitung des Virus einzudämmen. Ich bin aber zuversichtlich, dass Ende Monat oder Mitte Februar Lockerungen drinliegen, wenn wir jetzt die Massnahmen gut umsetzen und die Viralität senken.

Sie haben zur Viralität ein eigenes Berechnungsmodell entwickelt. Was sagt es aus?

Die Viralität besagt, wie viele ansteckende Personen es aktuell gibt. Derzeit sind es 0,5 bis 0,7 Prozent der Bevölkerung, beim Höhepunkt der Pandemie Anfang November waren es 2 Prozent. Mein Modell ist relativ genau und widerspiegelt im Gegensatz zum R-Wert ein fast tagesaktuelles Infektionsgeschehen.

Haben die Behörden Interesse an Ihrem Modell?

Ich werde die Grundlagen dafür in den nächsten Tagen öffentlich machen. Beim Bund, einem Kanton und bei der Covid-19-Taskforce findet man es interessant. Übernommen haben sie es bis jetzt nicht.