«Iss mit mir!»: Tiktoker helfen Jugendlichen mit Essstörung – Morena Diaz und eine Ärztin äussern Kritik

Ob Zopf zum Frühstück oder die Spaghetti am Mittag: Jugendliche essen – und filmen sich dabei. «Falls dir das Essen einmal schwerfällt, lass uns gemeinsam essen», hört man häufig auf der Plattform TikTok. Hinter dem neusten Trend steckt die 18-Jährige Sara Sadok aus den USA. Jugendliche, die an einer Essstörung leiden, sollen zum Essen ermutigt werden. Die Idee hinter dem Video ist, dass man so wenigstens virtuell gemeinsam eine Mahlzeit einnehmen kann und Unterstützung erhält. Mit ihrem Video erreichte Sadok vier Millionen Nutzerinnen und Nutzer. Likes erhielt sie 1,3 Millionen. Ihre Kommentarspalte ist voller positiven Reaktionen. Handelt es sich um einen typischen Trend, bei dem plötzlich jeder mitmacht? Oder steckt mehr dahinter? Wir haben nachgefragt. 

Die Jugendliche verbindet den Trend mit einer positiven Aussage. Er würde Mitgefühl ausdrücken und zeigen, dass man sich um das Wohlergehen anderer kümmert. Das hätte sie weitergeben wollen. Mit dem Video versuchte sie ihre Freundin zum Essen zu ermutigen – mit Erfolg. Das sei ein guter Anfang. In Kombination mit aufmunternden Worten oder ablenkendem Smalltalk könne die Angst vor dem Essen gelindert werden.  

Ermutigend gemeint, aber zum Essen gedrängt 

Im Gegensatz zur Begeisterung auf den Sozialen Medien schätzen Experten den neuen Trend kritisch ein. Body-Positivity-Bloggerin Morena Diaz erzählt in den Sozialen Medien seit Jahren davon, wie sie ihre Essstörung überwunden und gelernt hat, ihren Körper gern zu haben.  

«Es gibt immer ein Licht am Ende des Tunnels» 

Die Schwierigkeit bei Trends sei, dass sie so schnell abflachen wie sie auftauchen, sagt die Lehrerin aus dem Aargau. Personen, die in einer Essstörung stecken, würden vor allem eine Konstante brauchen. «Bei TikTok wie auch anderen Sozialen Medien gibt es immer Anführer und Anhänger. Letztere sind oft stark von ihren Vorbildern abhängig. Ist ein Anführer nicht mehr da, sind die Anhänger verloren», meint Diaz. Das sei gerade bei psychischen Erkrankungen und Essstörungen sehr schwierig.  

Die Bloggerin appelliert, möglichst schnell Hilfe zu holen. Auf der Webseite der Schweizerischen Gesellschaft für Essstörungen (https://sges-ssta-ssda.ch/) findet sich eine Liste von auf Essstörungen spezialisierten Stellen. Auch am Kompetenzzentrum für Essverhalten, Adipositas und Psyche (KEA) (www.spitalzofingen.ch/kea) können Betroffene Rat holen. 

Man sei in seiner Situation nicht allein und schämen müsse man sich auf keinen Fall. Mit ihrem Buch «Love Your Body», welches 2018 veröffentlicht wurde, möchte Diaz zeigen, dass man so viel mehr ist als die Zahl auf der Waage. Ein liebevoller Umgang mit dem eigenen Körper sei der Schlüssel zu einem Leben in Balance. Den Jugendlichen und jungen Erwachsenen gibt Diaz mit: «Es gibt immer ein Licht am Ende des Tunnels.» 

Chefärztin: Ein Donut ist für niemanden ein geeignetes Frühstück 

Auch Bettina Isenschmid, Chefärztin Kompetenzzentrum für Adipositas, Essverhalten und Psyche KEA im Spital Zofingen, äussert sich kritisch zum «Iss mit mir!»-Trend. Die im Video von Sara Sadok gezeigten Nahrungsmittel und Getränke seien für Menschen mit Essstörungen sehr problematisch. Aufgrund des hohen Fett- und Zuckergehalts würden Personen mit Magersucht diese Nahrungsmittel kaum zu sich nehmen. Ausserdem handle es sich bei einem Donut nicht um ein geeignetes Frühstück, ganz egal für welche Personengruppe.  

Das Video, obschon sympathisch und gut gemeint, gehe viel zu schnell und wirke allzu leicht, als dass es Betroffene wirklich aufnehmen könnten. Eventuell könne es Magersüchtigen Mut machen. Dazu brauche es aber viel mehr Zeit, weiss die Ärztin aus klinischen Erfahrungen. «Vor allem für Menschen mit Bulimie ist es ein Problem, da sie so die Kontrolle schnell verlieren und dann heimlich weiter essen könnten», schreibt Isenschmid. Zudem wisse man in den Sozialen Medien nie, was inszeniert ist und was nicht.  

«Andere Eigenschaften machen einen Menschen aus» 

«Wichtig ist, nicht einfach abzuwarten, sondern früh zu reagieren. Denn je länger die Krankheit andauert, desto schlechter ist die Prognose», erklärt Isenschmid. In der Jugend und im frühen Erwachsenenalter komme es häufig vor, dass man mit dem eigenen Körper unzufrieden ist. Wichtig sei besonders einen vom körperlichen Erscheinen unabhängigen Selbstwert aufzubauen. Die Ärztin fügt an: «Es sind viele andere Eigenschaften, die einen wertvollen Menschen ausmachen. Etwa Ehrlichkeit und Zuverlässigkeit, nicht etwa die perfekte Erscheinung.»