
Literaturtage Zofingen 2020: Die Schweiz ist auch anders
Christoph Schneeberger mit Sidekick Steela Diamond. Christoph Schneeberger mit Sidekick Steela Diamond. Christoph Schneeberger mit Sidekick Steela Diamond. Christoph Schneeberger mit Sidekick Steela Diamond. Christoph Schneeberger mit Sidekick Steela Diamond.
Richtungsweisend setzt der Sprachmagier Fabio Andina am Sonntagnachmittag mit seinem Roman «Tage mit Felice» ein Zeichen für ein ganz anderes Erleben. Sein minimalistischer Roman geht beim 90-jährigen Felice in die Lehre. «Dieser», so Andina, «ist nicht durch seine Worte, sondern durch seine Lebensart und -weise ein Lehrmeister der Selbstgenügsamkeit». Wie ein Bildhauer habe er sich dem Text, der einer realen Figur ein Denkmal setzt, angenähert. Nach einem ersten Entwurf habe er alles Überflüssige abgeschlagen und die Zeit im Leben dieses alten Mannes, der jahrein und jahraus täglich in einem Wasserloch in den Bergen Glieder und Gemüt tränke, abgebremst. Fasziniert folgen dem Tessiner der Vorleser Hanspeter Müller Drossaart, die Moderatorin Nicola Steiner und die Übersetzerin Jacqueline Aerne, die alle versuchen, die Magie dieses Buches zu ergründen. Gebannt, merkt man, dass nur Eigenlektüre Rhythmus und Minimalismus dieses Buches erlebbar machen kann. Kaufzwang also. Kein Buch des Wochenendes hat eine so lange Signierschlange generiert.
Heldin realistisch gezeichnet
Dabei hatte dieser Sonntag mit der Lesung von Christina Caprez mit einem «Ersatzgottesdienst» angefangen. Die Autorin ist die Enkelin der Feministin Greti Caprez-Roffler, der ersten Pfarrerin der Schweiz. Analytisch klug lässt sie die Figur plastisch werden, beschreibt deren Widersprüche ohne sie in Schubladen zu zwängen. Der Moderatorin Julia Knapp gelingt es, eine Ahnung davon herauszuarbeiten, was Greti Caprez-Roffler ausmacht, wie sich die Enkelin zu ihr verhält, was das Buch über historische Gegebenheiten der 30er- und 40er-Jahre vermittelt und welchen Preis diese starke Frau für ihre Überzeugungen bezahlt. Lesezwang auch hier.
Eindrücklich: Der vor 20 Jahren aus Bagdad geflüchtete Usama al Shamahni, der sagt, er habe in der Sprache seine Heimat gefunden. Und diese nutzt er, um aufzuzeigen, wie die vor Saddam Hussein geflüchtete Vaterfigur in seinem Roman «Im Fallen lernt die Feder fliegen» eben diese Heimat in der Schweiz nicht finden kann, weil seine Heimat eine physisch, reale sein muss. Er geht zurück in den Irak, seine in der Schweiz sozialisierten Töchter fliehen von dort in die Schweiz. Usama al Shahmani: «Aida glaubt, die Liebe zu den Eltern sei etwas Unzerstörbares. Im Irak lernt sie, dass ihre Liebe nicht ausreichend ist, um dort ein Leben mit ihren Eltern zu führen.» Lesezwang auch da.
Bemerkenswert auch: Thomas Röthlisbergers Roman «Die Fremde in unserer Mitte», ein Buch wie aus der Zeit gefallen zu einer Begebenheit im Jahr 1939, aber zweifellos noch viel mehr als das. Willi Wottreng begeistert mit seinem Roman Jenische Reise, der sich den Jenischen annähert und in seiner literarischen Technik jenische Eigenarten imitiert.
Umstrittenes sorgt an den Literaturtagen für die unverzichtbare Würze: Ist Samira El-Maawis aus der Kindersperspektive erzählte Roman «In der Heimat meines Vaters reicht die Erde wie der Himmel» zu wenig literarisch? Verliert sich Christoph Schneebergers Travestie-Performance zu seinem Roman «Neon Pink & Blue» zu sehr in gezierter Selbstbespiegelung oder ist es eine höhere Form von Travestie?
Verstehen lernen gleich Lesen und Einfühlen.
Das Fazit von Programmleiterin Julia Knapp gibt es hier.