Literaturtage Zofingen: «Expedition Schweiz belohnt Entdeckergeist»

Julia Knapp, die Schweizer Autorinnen und Autoren, die kommendes Wochenende in Zofingen gastieren, sind wenig bekannt. Erwartet uns genug Substanz? 

Julia Knapp: Gehaltvolle Stimmen sind auch an der heimischen Peripherie zu finden. Verdiente, renommierte Schweizer Autorinnen und Autoren wie Lukas Bärfuss oder der Zofinger Rolf Lappert, die bei Suhrkamp oder Hanser im Programm stehen, habe ich bewusst ausgelassen. Sie haben bereits ihr Publikum und ihre Bühnen. 

Die 16 Autorinnen und Autoren zeigen uns eine bewusst andere Schweiz. In welchen Themenfeldern schürfen sie? Was fördern sie zutage? 

Diese Sprachbilder und -schätze funkeln facettenreich und arbeiten sich mit Gespür an Unterschieden ab. Da darf uns die Schweiz schon mal etwas fremd erscheinen. Neben Lebensgeschichten in Romanform lernen wir auch literarisch ausgearbeitete Sachbücher kennen. In «Gruss aus der Küche. Texte zum Frausein» setzen 30 Frauen zwischen 28 und 80 ihren Alltag in Bezug zum Frausein heute. Die Herausgeberinnen Heidi Kronenberg und Rita Jost reden mit Krimiautorin Esther Pauchard darüber, was in unseren Küchen fast 50 Jahre nach Einführung des Frauenstimmrechts noch brodelt und gärt. 

Am Puls bewegt sich auch die Veranstaltung «Man kann auch im Alter nicht stillstehen». Die Herausgeberinnen Mena Kost und Anette Boutellier haben über 80 Jahre alte Schweize­r­innen und Schweizer über ihre letzte Herausforderung befragt. 

Ein sehr berührendes, aber zugleich auch erheiterndes Buch, für diese Menschen hat der Tod ihren Schrecken verloren. Wir haben zudem die Chance, uns mit mehreren Facetten von Identität auseinanderzusetzen: Usama Al Shahmani bringt uns mit viel Feingefühl eine in die Schweiz geflohene arabische Familie näher, die ihre Heimat verklärt und wieder in den Irak zurückkehrt. Die Töchter flüchten wiederum zurück in die Schweiz, um einer arrangierten Hochzeit zu entgehen. Samira El-Maawi lässt uns am Aufwachsen eines halbfarbigen Kindes in der Schweiz teilhaben. Die Heimatlosigkeit, die das Mädchen befällt, als ihre Familie auseinanderbricht, berührt. 

Wir erkunden zudem abgelegene Bergdörfer und Täler … 

… wo sich auch Identitätsfragen stellen. Thomas Röthlisberger schildert eine Dorfgemeinschaft, die 1939 ihre grösste Mühe mit einer Zuwandererin hat. Christina Caprez begibt sich in ihrer Emanzipationsgeschichte «Die illegale Pfarrerin» auf die Spuren ihre Grossmutter, der ersten von einer Gemeinde gewählten Pfarrerin der Schweiz, die das Amt ausübte, obwohl sie verheiratet und Mutter war – ohne Erlaubnis der Landeskirche. Fabio Andina thematisiert in «Tage mit Felice» das einfache Leben im Bleniotal. Das bezaubernd entschleunigende Buch konnte dank der CH-Reihe vom Italienischen ins Deutsche übersetzt werden. 

Was hat es mit dieser Reihe auf sich? 

Kaum einer kennt sie, doch die Stiftung leistet einen wichtigen identitätsstiftenden Beitrag für die mehrsprachige Schweiz. Die Übersetzungen gehaltvoller Bücher in jeweils andere Landesprachen werden dank ihren Finanzierungen überhaupt erst möglich. Wir sprechen am Samstagmorgen darüber, nachdem Leontina Lergier-Caviezel ihren in der CH-Reihe aus dem Rätoromanischen ins Deutsche übersetzten Roman «Hinter dem Gwett» vorgestellt hat. 

Am Samstagabend wagen Sie etwas, das man so in Zofingen noch nicht gesehen hat. 

In «May I Get A Drag Of Your Fag, Love?» performen drei Drag Queens, stellen den Szene-­Roman «Neon Pink & Blue» von X Noëme respektive Christoph Schneeberger vor und singen freche Lieder. Das dürfte uns so manche unvergessliche Momente bescheren. 

Langeweile ist also kommendes Wochenende kein Programmpunkt. 

Unsere Expedition Schweiz belohnt Entdeckergeist – auch wenn nicht alles den persönlichen Geschmack trifft. Dieser Vielfalt kann sich niemand mit echter literarischer Neugier entziehen. Wer sich tatsächlich von niemandem aus der Schar von 16 Autorinnen und Autoren zutiefst angeregt fühlt, den oder diejenige lade ich gerne persönlich auf einen Schnaps ein. 

Programm der Literaturtage Zofingen 

Sämtliche Veranstaltungen finden dieses Jahr aufgrund Corona im Kulturhaus West statt. Dort sind die Platzverhältnisse besser als im angestammten Kunsthaus Zofingen. Trotz Einhaltung eines strengen Schutzkonzeptes empfiehlt der Veranstalter dringend, im Saal Maske zu tragen. 

 

Samstag, 24. Oktober 

9 Uhr Einstimmen 

9.30 Uhr Leontina Lergier-Cavenziel; «Hinter dem Gwätt» und die CH-Reihe. Moderation: Claudio Spescha und Chasper Pult 

11.30 Uhr Thomas Röthlisberger: «Das Licht hinter den Bergen». Moderation: Hans-Peter Müller Drossaart 

12.30 Uhr Mittagspause 

13.30 Uhr Gespräch mit Bildern: Mena Kost und Annette Boutellier: «Ausleben». Moderation: Eric Facon 

15 Uhr Samira El-Maawi: «In der Heimat meines Vaters riecht die Erde wie der Himmel». Moderation: Katharina Altas 

16.30 Uhr Heidi Kronberg, Rita Jost, Esther Pauchard: «Gruss aus der Küche. Texte zum Frausein». Diskussion über 50 Jahre Frauenstimmrecht in der Schweiz. 

18 Uhr Willi Wottreng: «Jenische Reise». Moderation: Monika Schärer 

21 Uhr Musikalische Lesung und Drag-Queen-Bühnenperformance mit Christoph Schneeberger als X Noëme und Steela Diamond 

 

Sonntag, 25. Oktober 

9.30 Uhr Einstimmen 

10 Uhr Lesung Gespräch und «Ersatzgottesdienst» mit Christina Caprez: «Die illegale Pfarrerin». Moderation: Raphaela Sabel 

11.30 Uhr Fabio Andina: «Tage mit Felice». Moderation: Nicola Steiner 

12.30 Uhr Mittagspause mit Minestrone à Felice 

13.30 Uhr Usama Al Shahmani: «Im Fallen lernt die Feder fliegen». Moderation: Nicola Steiner 

15 Uhr Lukas Linder: «Der Unvollendete». Moderation: Urs Heinz Aerni 

16 Uhr Ausblick auf Kanada: Éric Plamondon, «Taqawan». Moderation: Hans-Peter Müller Drossaart 

Details zu den verschiedenen Programmpunkten siehe Programmheft als PDF unter www.literaturtagezofingen.ch