Mein innerer Influencer – Gedanken zum Bettag

«Mit der Zeit wirst du zu dem, was du bekämpfst.» – Dieser Satz lässt mich nicht los. Gelesen habe ich ihn bei Bill Wilson, dem Gründer der «Metro Church» in New York. Diese Kirche hat in den 1990-er Jahren angefangen, in den verwahrlosesten und kriminellsten Gegenden der Grossstadt ein Freizeitprogramm für Kinder anzubieten. Mit Bussen fahren die Mitarbeitenden durch die Strassen, an Prostituierten, Drogendealern und Kriminellen vorbei und sammeln die Kinder ein. Es sind nicht wenige, es sind ein paar Tausend! Mit Spiel, Spass und Kreativem geben sie ihnen zu verstehen, dass sie wertvoll sind und dass Gott sie nicht vergessen hat. Sie geben ihnen Werte mit auf den Weg, die sie auf den Strassen und in den oftmals kaputten Familien nicht vermittelt bekommen. Die Arbeit blüht. 

Doch nicht alle Mitarbeitenden haben es ausgehalten, das Elend und die Probleme der Kinder mitanzusehen. Einige haben den Dienst ausgebrannt und erschöpft an den Nagel gehängt. Wilson hat das sehr beschäftigt. Er hat nach den Gründen geforscht und ist zum Schluss gekommen: Bei einigen Mitarbeitenden ist die Denkweise der Ghettokultur in sie selber eingedrungen: «Niemand kümmert sich um mich. Ich schaffe es sowieso nicht. Es gibt keine Hoffnung und keine Zukunft.» Wilson sagte in einem Interview, was Seelsorgende oft beobachten: «Wenn man nicht aufpasst, wird man zu genau dem, was man bekämpft.» Obwohl sie die Hoffnungslosigkeit bekämpfen wollten, ist genau diese in sie eingedrungen. 

Laut Wilson besteht ein vielversprechender Ausweg in einer bestimmten Grundhaltung: Ich bekämpfe nicht etwas, sondern ich setze mich für etwas ein. Und: Es braucht eine ständige Erneuerung der eigenen Herzens- und Sinneshaltung, um sich für Menschen einzusetzen, anstatt sich über destruktive Strukturen zu ärgern und sie zu bekämpfen. Seine Kirche hat sich deshalb auf die Fahne geschrieben: Wir gehen nicht in die Ghettos, um Kriminalität und Prostitution zu bekämpfen. Wir gehen in die Ghettos, um den Kindern Liebe zu bringen mitten hinein in die Ghettokultur. Das ist ein gewaltiger Unterschied. 

In der Bibel gibt es dazu passend ein uraltes Sprichwort, das heute noch aktuell ist: Mehr als auf alles gib acht auf dein Herz, denn aus ihm strömt das Leben. (Buch der Sprichwörter Kapitel 4, Vers 23) Wobei damals mit Herz das Denken, Fühlen und Wollen gemeint war. 

Mich fasziniert dieser konstruktive Ansatz, weil er mich zum Denken anregt oder besser gesagt zum Umdenken. Umdenken hiess früher noch «Busse tun». Damit wären wir beim Eidgenössischen Dank-, Buss- und Bettag. Wie oft ertappe ich mich beim Jammern und Schimpfen über Missstände. Die schwierige Situation rund um das Corona-Virus gibt haufenweise Gelegenheit dazu. Doch dadurch wird nichts besser – im Gegenteil. Es sind unsere Köpfe und unsere Herzen, die darüber entscheiden, welche Zukunft wir anstreben. 

Bundesrat Alain Berset hat vor wenigen Tagen am Lucerne Festival die passenden Fragen gestellt: «Niemand weiss, wie sich unsere Welt durch diese Krise verändert. Aber wir kennen die entscheidenden Fragen, mit der sie uns konfrontiert: Wie gehen wir mit Unsicherheit um? Werden wir kreativer und rationaler? Oder werden wir defensiver und misstrauischer? Macht uns die Unsicherheit mutig oder ängstlich?» 

Vielleicht finden Sie an diesem staatlichen Feiertag Zeit, um sich auf die Schliche zu kommen: Prüfen Sie Ihr Herz, ob Sie es sich zur Gewohnheit gemacht haben, Dinge oder Menschen zu kritisieren und bekämpfen oder ob Sie im Grunde Liebe verbreiten und Aufbauarbeit leisten wollen. Denn mit der Zeit wird man nicht nur zu dem, was man bekämpft, sondern auch zu dem, was man liebt.