Soll die Personenfreizügigkeit gekündigt werden? Das sagen die Nationalräte Martina Bircher und Kurt Fluri

Pro: «Ein Ja zu Begrenzungsinitiative ist ein Ja zu unserer Zukunft»

Pro Jahr würden maximal 10’000 Personen in die Schweiz einwandern. Gestützt auf diese Prognose hat das Stimmvolk damals der Personenfreizügigkeit zugestimmt. 20 Jahre später ist klar: Diese Prognose war das Papier nicht wert, auf dem sie stand. Wir steuern mit Volldampf auf eine Zehn-Millionen-Schweiz zu. Denn statt 10’000 Zuwanderer kommen im Schnitt jedes Jahr 50’000 – in Spitzenjahren waren es auch schon 80’000 Personen.

Für unser kleines Land hat das dramatische Folgen. Wo früher zwischen den Gemeinden Felder waren, reihen sich heute die Betonblöcke aneinander. Die Mieten steigen, Bauland ist mittlerweile ein Luxusgut. Es wird eng in unserem Land. Das merken wir, wenn wir zur Arbeit pendeln – ob im Auto auf der A1 im Stau oder im Zug, wo es keinen Sitzplatz mehr hat. Wir merken es am Abend, wenn die Kinder erzählen, dass sie zwei neue Schulkameraden aus Tschechien bekommen haben. Wer aus der EU einwandert, kann seine Kinder schon am nächsten Tag in die Schule schicken – auch wenn diese kein Wort Deutsch sprechen.

Wie meistens, so ist auch hier alles eine Frage des Masses: Zwei, drei fremdsprachige Kinder pro Klasse sind verkraftbar. Doch in den letzten 20 Jahren hat sich die Zusammensetzung der Klassen fundamental verändert. Vielerorts sind fremdsprachige Schüler bereits in der Überzahl. Unsere Kinder sind nur noch Mittelmass, was auch die PISA-Studie belegt. Auch die Zuwanderung in unsere Sozialwerke hat stetig zugenommen. Kamen mit der Einführung der Personenfreizügigkeit noch vorwiegend Fachkräfte, Ärzte und Ingenieure, so kommen heute schlecht Qualifizierte aus Rumänien oder Bulgarien. Viele von ihnen landen in der Sozialhilfe.

Der Traum von der erfolgreichen Personenfreizügigkeit ist nach 20 Jahren ausgeträumt. Sie schadet uns mehr, als sie nützt. Es profitieren vor allem einige wenige Konzerne, weil sie ihre Gewinne optimieren. Wir anderen bleiben auf der Strecke. Wir sind es künftigen Generationen schuldig, dass wir zu unserem Land Sorge tragen. Damit das gelingt, müssen wir die Zuwanderung wieder selber steuern. Ein Ja zu Begrenzungsinitiative ist ein Ja zu unserer Zukunft.

Kontra: «Initiative ist extrem und gefährlich»

Dieser Beitrag gegen die Begrenzungs- oder besser Kündigungsinitiative könnte genauso gut vom früheren SVP-Nationalrat und erfolgreichen Unternehmer Peter Spuhler stammen. Die Aussage im Titel («Initiative ist extrem und gefährlich») machte er in dieser Zeitung am 7. März 2020. Und er führte weiter aus, die in der Initiative verlangte Anpassung des Freizügigkeitsabkommens mit der EU innert zwölf Monaten sei unmöglich.

Weil gemäss Initiativtext in der Folge das Abkommen zwingend gekündigt werden muss, wäre der Hinfall der übrigen sechs Abkommen der Bilateralen I automatisch die Folge. Dies aber sei gefährlich für den Wirtschaftsstandort Schweiz. Dem bleibt eigentlich nichts anzufügen – aber eine Ergänzung sei noch angebracht: Auch die SVP will «die Einwanderung nicht einfach stoppen, sondern bedarfsabhängig steuern» (Parteipräsident Albert Rösti in der NZZ). Heute geschieht nichts anderes: Die Personenfreizügigkeit steuert die Einwanderung aus der EU entsprechend der Nachfrage der Wirtschaft. Wenn die SVP die Bedürfnisse der Wirtschaft gemäss ihren eigenen Angaben nicht vernachlässigen will, muss auch sie die nötige Einwanderung zulassen.

Wo liegt denn der Unterschied? Dieser liegt offensichtlich darin, dass mit der Initiative die Zuwanderung zwar nicht gebremst, gleichzeitig aber ein enormer Schaden durch den automatischen Wegfall der 6 übrigen Bilateralen angerichtet wird. Auch mit Annahme der Initiative wird also die Zuwanderung nicht gebremst, massiv weiterer Schaden aber provoziert. Zum Schluss deshalb nochmals Peter Spuhler: «Für mich ist nicht nachvollziehbar, warum die SVP auf diese Initiative setzt.» Derselben Meinung sind die grosse Mehrheit des Parlaments, der Bundesrat und sämtliche Wirtschafts- und Arbeitnehmerorganisationen. Sie alle wollen unserer Wirtschaft und den Arbeitnehmenden nicht noch mehr Belastungen zumuten, als dies infolge der Coronakrise ohnehin der Fall sein wird. Die Initiative liegt völlig schief in der Landschaft!