Wie viel Sozialismus verträgt die Schweiz, Cédric Wermuth?

Cédric Wermuth kommt mit E-Bike und froschgrünem Helm. Wir treffen uns auf seinen Vorschlag im «Havanna», Zofingen. Keine linke Beiz, wie der Name vermuten lässt. Dazu hätte man in den «Ochsen» gemusst. Auf der Terrasse des «Havanna» trifft sich unter Palmen jedermann zum Feierabendbier oder Hamburger. Weil wir während des Interviews Fotos machen, wird die Kellnerin neugierig. «Sie sind Politiker? Welche Partei», fragt sie. «Was denken Sie?», fragt Wermuth zurück. «FDP?» Nicht ganz. Sie sei Serbo-Kroatin, sagt die junge Frau später auf Nachfrage der AZ, lebe seit zehn Jahren hier. «Ich bin gut integriert», sagt sie von sich aus und lacht. Doch beginnen wir von vorn.

 

Herr Wermuth, Sie hätten diese Woche drei Arbeitstage, sagten Sie bei der Terminsuche fürs Interview. Schmeissen Sie jetzt zwei Tage die Woche Haushalt und Kinder?

Cédric Wermuth: Das ist ein Spezialmodus, auch coronabedingt. Meine Frau und ich arbeiten diese Woche drei Tage, die Kinder sind bei den Grosseltern und dann gehen wir nochmals in die Ferien.

Wie ist Ihre Rollenverteilung?

Wir versuchen, das ausgeglichen zu machen. Während der Nationalratssession ist das naturgemäss schwierig, dafür bin ich sonst flexibler.

Wen sehen Sie eigentlich häufiger: Ihre Frau oder Mattea Meyer?

(lacht) Momentan meine Familie. Und das wird auch so bleiben, wenn es nach einer allfälligen Präsidiumswahl am 18. Oktober intensive Zeiten geben wird.

Wie familientauglich ist ein Parteipräsidium?

Das ist eine gute Frage. Und einer der zentralen Gründe, warum Mattea und ich ein Co-Präsidium wollen. Wir haben beide Familien und meinen es ernst damit, Familie und Politik zu vereinen.

Unterschätzen Sie das nicht?

Kann sein. Aber es muss möglich sein, eine verantwortungsvolle Position zu übernehmen und gleichzeitig Familienarbeit zu leisten. Das heisst dann auch, nicht jedes Telefon abzunehmen, wenn man frei hat. Es ist auch eine Frage der Haltung: Ist man bereit, Verantwortung und Aufgaben mit anderen zu teilen? Wir sind das.

Bös gesagt, haben Sie jetzt gleich von zwei Frauen ein Back-up: eins zu Hause und eins im Parteisekretariat.

Es ärgert mich, wie uns dauernd unterstellt wird, Mattea mache dann die Sekretariatsarbeit und halte mir den Rücken frei. Wir arbeiten auf Augenhöhe. Und wir wollen die Aufgaben auch auf mehr Schultern verteilen, zum Beispiel mit dem Vizepräsidium.

Martina Bircher, die im Gespräch fürs SVP-Präsidium war, sagt, ihre Politkarriere habe dort Grenzen, wo sie nicht mehr familienverträglich sei. Wo ziehen Sie die Grenze?

Wenn meine Familie das Gefühl hat, es stimme nicht mehr für sie. Man muss die Frage zu Hause laufend und offen diskutieren. Das ist wichtig, denn es wird im Falle einer Wahl Situationen geben, in denen wir sehr gefordert sind.

In der SP haben Sie keine Gegenkandidaten mehr. In der SVP sagen Kandidaten reihenweise ab. Ist Parteipräsident kein attraktiver Job mehr?

Der ehemalige SPD-Chef Franz Müntefering hat mal gesagt: Parteipräsident sei der zweitspannendste Job nach Papst. Aber es ist auch der zweit anstrengendste. Wahrscheinlich ist es weniger die zeitliche Belastung, die viele abschreckt, sondern dass man dauernd im Kreuzfeuer steht.

Der bisherige SP-Präsident Christian Levrat erhält 50 000 Franken pro Jahr für sein Amt. Bekommen Sie und Meyer folglich je 25 000 Franken?

Levrat erhält 50’000 plus 10’000 Spesen. Die Parteileitung hat entschieden, dass ein Co-Präsidium je 35’000 Franken plus 5000 Spesen erhalten würde. An dieser Entscheidung waren wir übrigens richtigerweise nicht beteiligt. Wir Kandidierenden wurden danach informiert.

Mattea Meyer und Sie sind politisch siamesische Zwillinge. Ist das nicht gefährlich?

Es besteht immer die Gefahr, dass man sich in einer Blase einsperrt und nicht mehr spürt. Darum braucht es eine breite Abstützung mit vielen Persönlichkeiten in der Partei, die mitarbeiten und ja, auch unsere Arbeit kontrollieren.

Viele befürchten intern offenbar unter die Räder zu kommen, wenn Sie an der Macht sind. Die Hälfte der SP-Fraktion hat Ihnen und Frau Meyer gemäss «NZZ am Sonntag» einen Brief geschrieben, mit der Aufforderung, der Vielfalt in der Partei Rechnung zu tragen. Haben Sie dieses Unbehagen unterschätzt?

Nein, mit ihrer Forderung nach Vielfalt rennen sie bei uns offene Türen ein. Wir sind dann stark, wenn wir am gleichen Strick ziehen und viele bereit sind, mitzuarbeiten und Verantwortung zu übernehmen. Das erwarten wir aber auch von jenen, die sich jetzt laut äussern.

«Es gibt für mich kein Tabuthema. Das heisst aber nicht, dass wir uns einfach den Positionen der Rechten annähern.»

«Es gibt für mich kein Tabuthema. Das heisst aber nicht, dass wir uns einfach den Positionen der Rechten annähern.»

© Britta Gut

Sie stehen für einen dezidierten Linkskurs, auf der anderen Seite der Skala ist SP-Ständerat Daniel Jositsch. Diese Woche hat er im «Blick» gesagt, es sei eine «Missachtung des Volkswillens», dass 58 Prozent der kriminellen Ausländer nicht ausgeschafft werden. Sind Sie auch empört?

Daniel Jositsch kommt als Strafrechtsexperte offenbar zu diesem Schluss. Ich muss mir diese Zahlen zuerst in Ruhe anschauen. Generell habe ich viel Vertrauen in die Gerichte.

Die SP hat das Ausländerthema bisher der SVP überlassen. Ein Fehler?

Es gibt für mich kein Tabuthema. Das heisst aber nicht, dass wir uns einfach den Positionen der Rechten annähern. Die Flüchtlingskrise ist die Folge einer krassen Ungleichheit und von Ausbeutung. Da müssen wir ansetzen.

Wenn Sie Präsident werden, wollen Sie den Schweizer Pass für Ausländerkinder ab Geburt ermöglichen. Welches Problem löst man damit?

Demokratie heisst, dass alle Betroffenen über die Gesetze mitbestimmen können. Ein Viertel ist heute in der Schweiz von diesen Rechten ausgeschlossen, obwohl sie hier leben, arbeiten, Steuern zahlen. Das geht nicht mehr. Diese Kinder sind hier geboren, sie gehören zu uns.

Weitere Programmpunkte, die Sie bereits skizziert haben: Obergrenze für Mieten, Abgabe auf Milliardenvermögen fürs Klima. Also klassische Umverteilungspolitik …

…Rückverteilungspolitik.

Wie Sie es auch nennen: Von einem jungen Führungsduo könnte man mehr Innovatives erwarten als reine Besitzstandswahrung.

Die Linke hat zwei Aufgaben. Die eine ist die Sicherung und Weiterentwicklung der sozialen Errungenschaften, wie die AHV, die Frauenrechte etc. Das hat sie gut gemacht. Aber ja, vielleicht hat der SP in den letzten Jahren die Kraft gefehlt, moderne Konzepte zu entwickeln.

Hat Ihnen die Coronakrise nicht die Augen geöffnet? Mit der Digitalisierung gibt es neue Bedürfnisse auch von Arbeitnehmern. Homeoffice zum Beispiel. Aber bei Arbeitszeitflexibilisierung reagiert die SP reflexartig abwehrend.

Corona hat drei Dinge gezeigt. Erstens ist Homeoffice schwierig, wenn es keine öffentlichen Infrastrukturen wie Kitas gibt. Das müssen wir ändern. Wir wollen, dass jedes Kind einen gebührenfreien Kita-Platz haben kann. Zweitens sind unverzichtbare Berufe, in denen vor allem Frauen arbeiten, zu schlecht bezahlt. Sie haben uns schliesslich in der Pflege, an der Kasse oder in der Schule durch den Lockdown gerettet. Und drittens braucht es eine soziale Absicherung von Selbstständigen und kleinen Geschäftsinhaberinnen und -inhabern. Sie sind auf der Strecke geblieben.

«Aus diesem Hamsterrad müssen wir raus, sonst bleibt eine soziale und ökologische Wende eine Illusion.»

«Aus diesem Hamsterrad müssen wir raus, sonst bleibt eine soziale und ökologische Wende eine Illusion.»

© Britta Gut

Ist der Kapitalismus eigentlich an jedem Problem auf Erden schuld?

Dass die Profitmacherei der Konzerne uns daran hindert, Lösungen zum Beispiel in der Klimafrage oder bei der globalen Gesundheit zu finden, ist inzwischen offensichtlich. Aus diesem Hamsterrad müssen wir raus, sonst bleibt eine soziale und ökologische Wende eine Illusion.

Umgekehrt gefragt: Wie viel Sozialismus verträgt die Schweiz?

Alles worauf wir an der heutigen Schweiz stolz sind, sind sozialdemokratische Errungenschaften: AHV, bezahlte Sommerferien, 8-Stunden-Tag, Mutterschaftsurlaub, der Service public, die öffentliche Kontrolle über Bildung, Wasser, Energie, die Sozialwerke. Genau das ist übrigens der Grund, warum die Schweiz besser durch die Krise der letzten Jahre gekommen ist als andere Länder. Natürlich, der real-existierende Sozialismus und seine Gewaltherrschaft sind katastrophal gescheitert – zu Recht. Aber das ist kein Grund, alle Versuche, eine solidarische Gesellschaft aufzubauen, abzuschreiben.

Trotzdem: Kann es auch für einen Linken zu viel Staat geben?

Staatskritik von links kam vielleicht sogar zu kurz in der Vergangenheit. Tatsächlich wehren wir uns in Bern dauernd gegen die Aufblähung des Staates von Rechts: Denken Sie an das Militärbudget oder die immer weiter gehenden Überwachungsmöglichkeiten. Das 20. Jahrhundert hat auch gezeigt, dass der Zentralstaat nicht immer die beste Antwort ist. Die Diktatur der Staatsmacht kann genauso schlimm sein wie die Diktatur der privaten Konzerne.

Bei den Nationalratswahlen letztes Jahr hat die SP im Gegensatz zu Grünen und Grünliberalen verloren. Sind Ihre Positionen mittlerweile veraltet für viele linksgrüne Wählerinnen und Wähler?

Die SP Aargau hat zugelegt. Aber ja, national nicht. Die Linke ist heute vielfältiger als noch vor einigen Jahrzehnten. Und das ist eigentlich gut so. So stark wie heute, mit den Grünen zusammen, war sie schon lange nicht mehr.

Die Erfolge der Grünen kann die SP nun kaum für sich reklamieren.

Wir arbeiten in 80 oder 90 Prozent der Fälle hervorragend zusammen. Die Sozialdemokraten sagen, die Klimafrage muss sozialverträglich gelöst werden, da unterscheiden wir uns teilweise von den Grünen. Wichtig ist aber vor allem, dass wir gegenüber dem Rechten Lager stärker geworden sind.

In drei Monaten sind im Aargau Gesamterneuerungswahlen von Grossem Rat und Regierung. Wie wird sich die SP dort schlagen?

Ich bin verhalten optimistisch. Was die Coronakrise politisch bedeutet, ist noch offen. Auch weil der Wahlkampf sehr speziell sein wird.

Durch die Coronakrise ist der Sozialstaat gefordert. Kann das für die SP auch eine Chance sein?

Im letzten Jahr drehte sich der Wahlkampf vor allem um den Klimawandel. Machen wir nichts gegen den Klimawandel, sind auch alle anderen Fragen hinfällig. Die SP will ökologischen Umbau und soziale Absicherung gleichermassen vorantreiben. Gut funktionierende Sozialwerke sind aber in den letzten Monaten sicher noch bedeutender geworden.

Ein wichtiges Thema für die SP ist die Geschlechterfrage. Wie finden Sie es, dass in der Kantonsregierung nur Männer sind?

Eine reine Männerregierung ist eigentlich nicht gangbar. Es liegt aber nicht allein in der Verantwortung der SP, dass Frauen in der Politik stärker vertreten sind. Die Sozialdemokratie ist es, die im Aargau in der Politik für ausgeglichene Geschlechterverhältnisse sorgt. Keine Partei hatte in den letzten dreissig Jahre so viele Frauen in Spitzenpositionen.

Gar keine Selbstkritik? Schliesslich hat die SP mit Dieter Egli einen Mann nominiert und damit die Chance vergeben, erstmals eine SP-Frau in den Regierungsrat zu bringen.

Letztes Jahr hatten wir eine Kandidatin, jetzt einen Kandidaten. Das hat die SP-Basis so entschieden und folgt der Logik, abzuwechseln. Natürlich kann man diesen Entscheid kritisieren. Aber die SP ist im Aargau die einzige grosse Partei, bei der auf allen Ebenen Männer und Frauen gleich vertreten sind.

«Es wird hier manchmal sogar mit härteren Bandagen gekämpft als in Bern, teilweise auch innerhalb der Parteien.»

«Es wird hier manchmal sogar mit härteren Bandagen gekämpft als in Bern, teilweise auch innerhalb der Parteien.»

© Britta Gut

Zurzeit sind gleich mehrere Aargauer national im Gespräch. Sie werden höchstwahrscheinlich Co-Präsident der SP Schweiz, Andreas Glarner will SVP-Präsident werden und auch Martina Bircher stand zur Debatte. Zufall oder steckt mehr dahinter?

Dass gerade jetzt so viele Aargauer im Fokus sind, mag Zufall sein. Der Aargau ist aber durchaus ein Stahlbad für Politikerinnen und Politiker. Es wird hier manchmal sogar mit härteren Bandagen gekämpft als in Bern, teilweise auch innerhalb der Parteien. Auch wir in der SP haben eine sehr lebendige Diskussionskultur.

Letztes Jahr kandidierten Sie für den Ständerat, sind aber deutlich gescheitert. Offenbar ist es einfach, SP-Präsident der Schweiz zu werden, als Aargauer Ständerat für die SP?

Wir hatten seit 1848 erst zweimal einen Sitz im Ständerat, von daher haben Sie statistisch gesehen Recht. Die spannendere Frage ist ja aber, was schöner ist. Aber das werde ich vielleicht erst in ein paar Jahren beantworten können.