Ein ungewohntes Erlebnis

Wenn es nicht so tragisch wäre, wäre es wunderschön. Beim täglichen Verdauungsspaziergang nach dem Abendessen fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Erst war es ein leichtes Pfeifen in den Ohren, dann ein starkes Blenden. Ich war auch schon an einem Abend bei Sonnenschein unterwegs – und doch ist seit ein paar Wochen alles ein bisschen anders. Es wird mir bewusst, wie es wäre, wenn nur ein Bruchteil der Menschen den Planeten bevölkern würde. Es ist alles stiller, beruhigender, intensiver. Ich glaube, ich habe zuvor noch nie einen stahlblauen Himmel gesehen, an dem kein einziger Kondensstreifen eines Flugzeugs zu sehen war. Ich glaube, ich habe noch nie ein so eindrückliches, mehrstimmiges Vogelkonzert miterleben dürfen. Ich glaube, ich habe an einem schönen Frühlingsabend noch nie so wenig Menschen auf dem Heitern gesehen. So schlimm die aktuelle Situation für das Gesundheitswesen und die Wirtschaft ist, so entspannend ist sie für die Umwelt. Die Luft ist sauberer und die Tiere erobern sich kleine Teile des grossen Gebietes zurück, aus dem sie in den letzten Jahren verdrängt wurden. Ich habe Mühe damit, mich an den Lockdown zu gewöhnen, mit der Ruhe könnte ich aber durchaus leben.