Hausärzte-Präsident Bhend: «Ich wünsche Ihnen eine Corona-Infektion…

… mit mildem oder sogar symptomlosem Verlauf!» – Mit dieser Aussage habe ich letzten Freitag das Pflegeteam im Falkenhof erschreckt. Schnell habe ich dann ergänzt: Dasselbe wünsche ich auch für mich! Wir sind dann zur gemeinsamen Überzeugung gekommen, dass der beste Schutz der Pensionäre vor einer COVID-19-Infektion wäre, ein Pflegeteam, bei dem alle die Infektion schon durchgemacht haben, also immun sind. Dies ist eine Illustration für den sogenannten Herdenschutz: gefährdete Personen profitieren von der Immunität der Umgebung.

Weshalb schreibe ich als gewöhnlicher Hausarzt und Nicht-Epidemiologe diese Zeilen? Als Hausärzte sind wir seit dem ersten Tag an vorderster Front dabei und werden wohl nach dem Abklingen der Epidemie noch lange damit beschäftigt sein. Aufgeschreckt hat mich der immer lautere Ruf nach mehr Tests auf das COVID-19-Virus. Bei der gegenwärtigen Präsentation der Corona-Zahlen und vor allem der Interpretation derselben durch das breite Publikum bin ich gegen eine Ausweitung des Testens. Die Begründung folgt.

Zunächst meine Annahmen zur COVID-19-Pandemie:

– Das Virus wird uns auch in fünf und zehn Jahren notvoll begleiten.

– Wir werden in den nächsten zwei bis drei Jahren weiterhin Tests auf Corona-Infektionen durchführen.

– Einen Impfstoff wird es wahrscheinlich erst in einem Jahr geben.

– Staaten, welche strikte trennen (Identifizieren, Nachverfolgen, Isolieren), werden dies auch noch in einem, zwei oder drei Jahren tun.

– Eine Exit-Strategie, welche auf belastbaren wissenschaftlichen Daten fundiert, werden wir frühestens in einem Jahr haben. Somit ist ein pragmatisches Ausstiegskonzept gefragt.

– Wir sollten möglichst bald einen Herdenschutz erreichen und diese Pandemie hinter uns bringen. Konkret heisst das, möglichst viele Nicht-Risiko-Personen sollten immun werden.

Testen, Testen, Testen?

Aktuell werden täglich zwei Zahlen präsentiert: Anzahl Neuinfizierte und Anzahl neue Corona-Todesfälle. Ein Ausstiegszenario wird vom Rückgang dieser Zahl der Neu-Infizierten abhängig gemacht. In der Sendung «10-vor-10» vom 3. April wurde erwähnt, dass man zuerst eine tiefe dreistellige oder sogar zweistellige Zahl erwartet, bis die Massnahmen gelockert würden. Der Ruf nach viel mehr Tests wird damit zur selbsterfüllenden Prophetie. Mehr Tests bedeutet auch, mehr positive Tests nachzuweisen. Somit blockiert die vermehrte Testung den Ausstieg, falls tatsächlich dieser Wert das Kriterium sein soll. Das BAG hat zu Beginn eine restriktive Testung empfohlen, vor allem aus Mangel an genügenden Tests. Bisher wurden die positiven Tests nie direkt in Relation gesetzt zu der Gesamtzahl am gleichen Tag durchgeführten Tests. Mitten im Verlauf kann man das schwerlich ändern. Aussagekräftiger wäre das Verhältnis Positive zur Gesamtzahl der Tests. Bei Verbesserung der Gesamtsituation müsste dieser Wert abnehmen. Dann wäre grundsätzlich nichts einzuwenden gegen eine Ausweitung, mit entsprechend angepasster Interpretation.

Die Interpretation der zweiten Zahl, der Anzahl Corona-Todesfälle ist etwas komplexer. Eigentlich müsste es heissen «Todesfälle mit Corona-Infektion». Die breite Masse liest aber «Todesfälle wegen dem Corona-Virus». Eine prozentuale Gewichtung der Corona-Infektion als Ursache des Ablebens ist nicht praktikabel. Aber wichtig zu wissen: ein Diabetes-Patient mit einem Krebsleiden und nun zusätzlicher Corona-Infektion gilt als Corona-Todesfall. Etwas entschärft wird diese nackte Zahl, wenn man sie in Relation zu den üblichen Todesfallzahlen stellt. Dadurch entsteht der Begriff der sogenannten «Übersterblichkeit». Diese sagt aus, wie viel zusätzliche Todesfälle auftreten in einer Zeitperiode. Tatsächlich hat diese Übersterblichkeit seit Mitte März zugenommen, aber noch nicht in dem Ausmass wie anlässlich der letzten Grippewelle. Jeder Todesfall ist einer zu viel. Wenn man zudem die Zahlen und Bilder aus dem Ausland verdauen sollte, wird man einfach sprachlos, fühlt sich ohnmächtig und ausgeliefert. Dennoch ist es sachlicher, wenn man die Anzahl Todesfälle im Zusammenhang mit COVID-19 in dieser Relation sieht.

Je länger der Lockdown andauert, desto mehr haben wir ein Risiko von möglichen Todesfällen aus einer anderen Statistik. Aktuell sind die Hausarztpraxen leer, weil die Mehrzahl der chronisch-kranken Patienten nicht mehr zur Kontrolle erscheint. Das könnte zur Zeitbombe werden. Es ist durchaus denkbar, dass hier zusätzliche, frühzeitige Todesfälle eintreten werden, weil wichtige Korrekturen nicht erfolgt sind. Diese Todesfälle wird man aber nicht identifizieren können. Je länger der Ausnahmezustand dauert, desto mehr fallen diese Risiken ins Gewicht und müssten konsequenterweise in die Gesamtbilanz der möglichen Todesfälle einbezogen werden.

Noch fataler als die falsche Interpretation von Positiv-Getesteten und Todesfällen ist, wenn diese beiden in direkten Bezug gebracht werden. Leider ist dies fast die normale Leseart. Konkret haben wir aktuell rund 22 250 positiv Getestete und rund 760 Todesfälle (Stand gestern). Das bedeutet aber nicht, dass von 22 250 Erkrankten 760 gestorben sind. Tatsächlich ist aber die Zahl der Personen, welche COVID-19 schon durchgemacht haben, deutlich höher. Diese Vermutung basiert auf der Feststellung, dass seit der Corona-Epidemie sehr viele Patienten entsprechende Symptome hatten – und von uns Hausärzten, den Notfallzentren und medizinischen Telefondiensten ohne Testung angewiesen wurden, zu Hause zu bleiben. In unserer Gruppenpraxis hatten wir im letzten Monat pro Arzt in zirka 50 Fällen einen Verdacht auf COVID-19. Es ist anzunehmen, dass es den 7000 Hausärzten der Schweiz ähnlich ging. Wenn nur ein Teil davon eine COVID-Infektion durchgemacht hat und weit mehr unbemerkt immun geworden sind, wäre der Grundstock für einen Herdenschutz gelegt. Eine genaue Schätzung wird erst möglich sein, wenn Antikörpertests, also ein Nachweis der durchgemachten Infektion, breitflächig zur Verfügung stehen.

Die harte Währung für ein Ausstiegsszenario

Für mich wären die Anzahl Spitalbetten, die verfügbaren Intensivpflegebetten und Beatmungsgeräte die Parameter, mit denen gemessen werden kann, ob ein Ausstieg erfolgreich umgesetzt werden kann. Nach meiner Einschätzung sollten die Spitäler zu maximal zwei Drittel der Kapazitäten belastet werden. Deutschland hat letzte Woche gemeldet, dass die Zahl der Intensivbetten auf 40 000 erhöht wurde, aktuell aber nur 2000 belegt seien. Für die Schweiz habe ich letzte Zahlen von total 1400 Intensivbetten bei einer Belegung von unter 300 gehört. Diese Zahlen müssten tagesaktuell publiziert werden. Sie sind nur mühsam auffindbar und meist schon veraltet.

Das Ziel eines Ausstiegsszenarios ist es, innert nützlicher Frist einen gewissen Herdenschutz zu erreichen. Konkret bedeutet das: Die Gesunden, nicht risikobehafteten Personen sollten langsam und stufenweise zur Normalität zurückkehren. Dies mit dem Wissen, dass sich einige mit COVID-19 anstecken werden. In regelmässigen Intervallen könnte monitorisiert werden, ob die Spitäler die Mehrzahl der Patienten gut bewältigen können. Solange die Belegung im vernünftigen Rahmen ist, kann stufenweise weiter gelockert werden. Den Spitälern ist nicht zuzumuten, über Monate die Kapazitäten bereit zu halten, ohne sie zu nutzen. Das Risiko einer komplizierten Corona-Infektion, also mit Spitalbedürftigkeit, ist für die Normalbevölkerung nicht null, aber vertretbar. Personen, welche die Infektion schon durchgemacht haben und somit – mindestens für eine gewisse Zeit – immun sind, bremsen die Ausbreitung bei Lockerung der Massnahmen.

Die Risikopopulation optimal schützen

Wiederum: Ideal wäre, wenn nur immune Personen in Kontakt treten mit Risikopatienten. Allen ist klar, dass dies aktuell Wunschdenken ist. Zum Beispiel für Senioren heisst dies aber auch, dass sie sich noch mindestens ein Jahr weiter wie bisher schützen müssen. Erst wenn eine wirksame Therapie oder eben ein Impfstoff verfügbar sein wird, können für sie die Massnahmen gelockert werden.

Fazit: Experten haben breitere Palette an Parametern

Bisher haben der Bundesrat und das BAG sehr gute Arbeit geleistet. In schwierigen und unsicheren Zeiten Führungsstärke zu zeigen und klare, massvolle Massnahmen durchzusetzen und kommunikativ gut zu begleiten, ist den Verantwortlichen hervorragend gelungen. Ich bin überzeugt, dass die Experten des Bundes zur Begründung der Exit-Strategie eine viel breitere Palette an Parametern haben, als die eindimensionale Sicht auf die Corona-positiv Getesteten. Weshalb nur diese kommuniziert werden, ist mir unverständlich. Die Lockerung muss und wird kommen. Niemand soll und darf ein Datum vorschreiben. Die Anordnungen der Behörden sind unbedingt zu befolgen. Diejenigen, welche bisher regelmässig beim Hausarzt in Kontrolle waren, sollten dies weiterhin tun, allenfalls nach Rücksprache den nächsten Termin festlegen.

Dr. med. Heinz Bhend ist Präsident der Hausärzte Region Zofingen