
Wegen Chlorothalonil: Trinkwasserversorger erwarten Kosten von mehreren hundert Millionen Franken
«Panik ist fehl am Platz»
Die Behörden betonen: Das Trinkwasser kann weiterhin getrunken werden, auch wenn der Höchstwert überschritten wird. Dieser sei vorsorglich sehr tief angesetzt, weil die Qualitätsansprüche ans Trinkwasser sehr hoch seien. Bei Obst und Gemüse galten früher deutlich höhere Grenzwerte.
«Panik ist fehl am Platz», betont auch Paul Sicher vom Trinkwasserverband. Chlorothalonil werde seit den 1970er Jahren eingesetzt, die Wasserbelastung gebe es daher schon seit Jahrzehnten. Lange konnte sie jedoch gar nicht gemessen werden. Dennoch: Nichtstun sei keine Option. «Wir können das Problem nicht aussitzen», sagt Sicher. «Die Chlorothalonil-Metaboliten bleiben noch Jahrzehnte im Grundwasser.»
Die Bauern setzten Chlorothalonil jahrzehntelang ein, um beispielsweise Kartoffeln, Getreide und Reben gegen Pilzbefall zu schützen. 2018 wurden in der Schweiz knapp 37 Tonnen davon verkauft. (mjb)
Seit Anfang Jahr ist der Wirkstoff Chlorothalonil verboten, da er als wahrscheinlich krebserregend gilt. Doch das Problem ist damit nicht gelöst. Der jahrzehntelange Einsatz hinterliess Spuren in der Natur – auch im Trinkwasser. Seit Januar gilt für alle Abbaustoffe von Chlorothalonil ein Höchstwert von 0,1 Mikrogramm pro Liter. Dieser wird teils deutlich nicht eingehalten.
Die «SonntagsZeitung» berichtete, dass bei 20 von 31 Messungen des Bundes der Wert überschritten wurde – in einem Fall im Waadtland um das 27-fache. Der Trinkwasserverband SVGW rechnet mit bis zu einer Million betroffenen Konsumenten. Sie können das Wasser aber weiterhin trinken, betonen Behörden und Verband (siehe Kasten am Ende des Artikels).
Einfache Massnahmen reichen nicht
Dennoch stellt Chlorothalonil die Wasserversorger vor grosse Probleme. Sie müssen dafür sorgen, dass die Höchstwerte wieder eingehalten werden. Das sei nicht einfach, heisst es. «Rasche Lösungen sind im Mittelland in den seltensten Fällen möglich», sagt Paul Sicher, Kommunikationschef des Wasserverbands. Das zeige sich etwa im Kanton Solothurn. Dort sind alle grossen Grundwasservorkommen belastet, wie die Behörden mitteilten.
Einfache Massnahmen – etwa eine kurze Leitung, um das Wasser aus zwei Quellen zu mischen – sind daher nicht mehr möglich. Eine Option ist laut Sicher, See- oder Flusswasser für eine ganze Region aufzubereiten, um neben dem Grundwasser ein zweites Standbein haben. Eine andere Möglichkeit sei der Bau von Transportleitungen aus unbelasteten Regionen.
Das Bundesamt für Lebensmittelsicherheit und Veterinärwesen hat den Wasserversorgern eine Frist von maximal zwei Jahren gegeben. Zu wenig, findet der Trinkwasserverband: Angesichts des Ausmasses sei das nicht realistisch. Es brauche Zeit, um gute, nachhaltige Lösungen zu erarbeiten. Dabei müsse auch der Klimawandel berücksichtigt werden, der laut Experten zu trockeneren Sommern führen wird.
Verband fordert mehr Zeit
Sicher warnt deshalb davor, überstürzt zu handeln. Und das zuständige Bundesamt? Es drückt einerseits aufs Tempo. «An das Schweizer Trinkwasser werden sehr hohe Ansprüche gestellt», betont Sprecherin Nathalie Rochat. «Es müssen Massnahmen getroffen werden, um Verunreinigungen durch Pflanzenschutzmittel und deren Metaboliten schnellst möglich zu minimieren.»
Gleichzeitig erklärt Rochat allerdings, je nach Gegebenheit könnten die Lösungen und die dafür benötigte Zeit «sehr unterschiedlich» sein. Das Bundesamt will im Sommer eine erste Bilanz ziehen und die Weisung überprüfen, welche die zweijährige Frist vorgibt. Bis der Grenzwert überall eingehalten wird, dürfte es also dauern.
Mehrere hundert Millionen Franken
Die Investitionen dürften einiges kosten. Wie viel, sei aktuell schwierig vorherzusehen, sagt Paul Sicher. Bis im Sommer wolle man sich einen Überblick über die Belastung und mögliche Lösungen verschaffen. Klar ist: Es ist eine grössere Summe. «Wir gehen – ganz grob geschätzt – schweizweit von mehreren 100 Millionen Franken aus», sagt Sicher.
Bezahlen müssen das die Wasserversorger; der Bund schliesst eine Beteiligung aus. Rechtlich gesehen liege die Verantwortung bei den Betreibern der Trinkwasserversorgungsanlagen, erklärt Sprecherin Rochat: «Somit kann sich der Bund nicht beteiligen.»
Die Seeländische Wasserversorgung prüft indes eine Haftungsklage gegen den Bund, da dieser das Pestizid zugelassen hat, wie Radio SRF berichtete. Der SVGW stelle sich diese Frage auch, sagt Paul Sicher: «Man muss das prüfen. Die Wasserversorger am Ende der Kette müssen das Problem ausbaden – ohne es verursacht zu haben.» Allerdings seien die Chancen einer Klage vermutlich gering.