
Tierrechtsexpertin Künzli: «Behörden bagatellisieren Tierschutzverstösse immer noch»

ZUR PERSON
Christine Künzli ist Rechtsanwältin und stellvertretende Geschäftsleiterin der Stiftung Tier im Recht im Zürich. Sie führt das Projekt «Schriften zum Tier im Recht» und ist an der Erstellung der jährlichen Analyse der Schweizer Tierschutzstrafpraxis sowie weiterer tierschutzrechtlicher Publikationen beteiligt. Seit 2015 sitzt sie in der Tierschutzkommission des Kantons Zürich.
Der Tierschutz-Fall Oftringen beschäftigt die Menschen über die Region hinaus seit Tagen. Viele fragen sich: Warum schritten die Behörden nicht früher ein? Wieso nahm man dem Halter die Tiere nicht früher weg? Warum erliess man nicht früher ein Tierhalteverbot? Die zuständige Amtschefin Alda Breitenmoser sagte letzte Woche im Interview mit dem Zofinger Tagblatt, man habe im Dezember und Januar «kontrolliert, was man kontrollieren konnte – und was zugänglich war». Bei den zugänglichen Tieren habe der Veterinärdienst nichts Aussergewöhnliches feststellen können. Nur Wochen später stiessen Polizisten auf Dutzende verhungerter, teilweise bereits mumifizierter Tiere. Fakt ist: Gestützt auf die Vorgeschichte und die vielen Meldungen über den Oftringer Tierhalter wäre es durchaus möglich – und wohl auch verhältnismässig – gewesen, wenn sich das Veterinäramt Zutritt zu den Ställen verschafft hätte, um Nachschau zu halten. Die Grundlagen dazu liefert das Tierschutzgesetz. Im Interview mit dem Zofinger Tagblatt erklärt die Tierschutz-Rechtsexpertin Christine Künzli, wie weit die Behörden gehen können. Und fordert, dass mit der Bagatellisierung von Tierschutzverstössen endlich Schluss sein muss.
Frau Künzli, hätten sich die Kontrolleure im Oftringer Tierschutzfall – gestützt auf die Vorgeschichte und das Tierschutzgesetz – Zutritt zum Gelände verschaffen können, um sich zu überzeugen, dass wirklich keine Tiere unter schlimmen Bedingungen gehalten werden?
Grundsätzlich ja. Die ausschlaggebenden Artikel sind die Artikel 24 und 39 im Tierschutzgesetz. Zuständig für den Vollzug sind die kantonalen Veterinärdienste. Sie haben das Zutrittsrecht, dieses geht sogar weiter als dasjenige der Polizei. Konkret steht im Gesetz: «Die mit dem Vollzug dieses Gesetzes beauftragten Behörden haben Zutritt zu den Räumen, Einrichtungen, Fahrzeugen, Gegenständen und Tieren; dabei haben sie die Eigenschaft der Organe der gerichtlichen Polizei.»
Das Zutrittsrecht geht relativ weit.
Ja. Das heisst: Die Behörden dürfen sich auch Zutritt verschaffen, wenn der Eigentümer nicht vor Ort ist. Es braucht die Einwilligung des Tierhalters grundsätzlich nicht. Selbstverständlich sind solche Kontrollen nicht immer einfach und müssen verhältnismässig sein. Wir stellen aber fest, dass Vollzugsbehörden die Verhältnismässigkeit immer wieder zu Gunsten der Tierhalter ausgelegen, und nicht im Sinne des Tierschutzes. Wenn ein Halter immer wieder gegen Tierschutzvorschriften verstösst, kann es durchaus verhältnismässig sein, dass sich die Behörden Zutritt zu sämtlichen Tieren verschaffen, auch wenn der Halter nicht anwesend ist. Oder sie bieten den Tierhalter auf und bestehen darauf, den Gesundheitszustand aller Tiere kontrollieren zu können. Selbst wenn sich der Halter weigert, besteht eine ausreichende gesetzliche Grundlage für das Veterinäramt, sämtliche Räume, in denen sich Tiere befinden, zu überprüfen. .
Im konkreten Fall gab es Alarmzeichen, es gab viele Meldungen, es gab Strafurteile und Bussen. Die Voraussetzungen, dass sich die Behörden Zugang verschafft hätten, wären vorhanden gewesen.
Ich kenn den Fall nicht im Detail. Aber aufgrund der bisherigen Erkenntnisse aus den Medien drängt sich die Frage auf, ob das Veterinäramt im vorliegenden Fall sämtliche ihm zur Verfügung stehenden Massnahmemöglichkeiten ausgeschöpft hat. Gerade wenn ein Halter über Jahre hinweg immer wieder gegen Tierschutzvorschriften verstösst, ist das ein klares Zeichen dafür , dass er nicht fähig ist, seine Tiere gesetzeskonform zu halten.
Anders gefragt: Wenn eine Vorgeschichte da ist, wenn Alarmzeichen da sind: Sind die Behörden sogar verpflichtet, sich Zutritt zu verschaffen?
Natürlich. Weil sie den Auftrag haben, für den Vollzug der Tierschutzbestimmungen zu sorgen. Sie sind zu Kontrollen verpflichtet, und auch dazu, die notwendigen Tierschutzmassnahmen zu erlassen. Sie können beispielsweise ein Tierhalteverbot aussprechen, die Tiere beschlagnahmen oder diese – als Ultima Ratio –töten lassen. .
Haben die Behörden in der Schweiz generell Mühe mit dem Vollzug der Tierschutzgesetze?
Wir stellen fest, dass sowohl Verwaltungs- wie auch Strafverfolgungsbehörden Tierschutzverstösse immer noch bagatellisieren. Die Veterinärbehörden haben oft Mühe, die Verhältnismässigkeit im Sinne des Tierschutzes auszulegen. Dies auch, weil ihnen oft von übergeordneten Stellen, den Staatsanwaltschaften und Gerichten, die nötige Rückendeckung fehlt. Ebenso besteht bei vielen Veterinärbehörden die falsche Annahme, dass für die Anordnung eines Tierhalteverbots ein Strafurteil vorliegen müsse. Dem ist allerdings nicht so. Ein Tierhalteverbot ist eine verwaltungsrechtliche Massnahme, die das Veterinäramt gestützt auf seine Einschätzung erlassen kann. Wenn wie im konkreten Fall über eine lange Zeit bei der Tierhaltung immer wieder Mängel bezüglich Pflege und Ernährungszustand festgestellt werden, ist das keine Bagatelle, sondern hat zwingend ein Tierhalteverbot nach sich zu ziehen.