
Unlock statt Lockdown
Was eine Pandemie ist, haben inzwischen alle mitbekommen. Eine Differentialdiagnose ist eine mögliche Diagnose bei gewissen Beschwerden oder Symptomen. Wir müssen als Gesellschaft möglichst bald vom Pandemie-Modus in den Differentialdiagnose-Modus wechseln. Covid-19 wird uns erhalten bleiben – und wohl auch in zehn Jahren noch eine Möglichkeit einer Erkrankung mit Komplikationen, Hospitalisationen und Intensivpflegebedarf sein; also eine Differentialdiagnose wie andere Krankheiten, von denen niemand mehr spricht, als ob es sie nicht mehr gäbe.
«Abflachen der Kurve» (flatten the curve, Anzahl Fälle pro Zeiteinheit) war die Devise seit Beginn der Pandemie. Konkret bedeutet dies, Massnahmen zu ergreifen, welche einen schnellen und unkontrollierten Anstieg der Infektionen ausbremsen, um damit eine Überforderung des Gesundheitssystems zu vermeiden. Wir erinnern uns alle noch an die Modellrechnungen der Experten. Zum Glück ist nicht alles eingetroffen, was prophezeit wurde. Die Interpretationen waren dann schnell zur Hand, dass eben die Massnahmen gegriffen hätten, die Bevölkerung sehr diszipliniert sei usw.
Sich darüber streiten, welche Massnahme genau was bewirkt hat, können wir dann eventuell in drei Jahren. Aktuell ist nur klar, dass noch vieles unklar ist. Die Pandemie hat trotz der Massnahmen eine Eigendynamik, welche kaum im Voraus berechnet werden kann. Wir machen aktuell einen riesigen Feldversuch mit der Delta-Variante, möchten gerne wissen, wie viele der Infizierten hospitalisiert werden müssen oder sogar einen IPS-Platz beanspruchen. Das wissen wir aber erst durch kontinuierliches Monitoring, das heisst während und dann einigermassen sicher erst nach der Pandemie.
Die Pandemie wird dann vorbei sein, wenn die Infektionszahlen sich auf tiefem Niveau halten, nur wenige der Infizierten eine Spitalbehandlung nötig haben und dies, obwohl alle Massnahmen weg sind. Ja, alle Massnahmen! Keine Masken mehr, weder drinnen noch draussen, kein Impfnachweis, keine Testpflicht vor irgendeinem Anlass oder Raum. Wenn wir an diesem Punkt sind, ist die Pandemie vorbei und Covid-19 beschäftigt «nur» noch die Ärzte und Spitäler. Ich formuliere dies als Endpunkt der Pandemie. So weit sind wir noch nicht.
Solange wir irgendwelche Massnahmen haben, versuchen wir immer noch nichts anderes als die Kurve abzuflachen. Dies heisst aber zwangsläufig auch: So lange Massnahmen verfügt sind, verlängert sich die Pandemie.
Irgendwann müssten wir zur Einsicht kommen, rasch normalisieren und einen – dann hoffentlich letzten – Anstieg in Kauf zu nehmen.
Eine Illustration, dass damit nicht ewig zugewartet werden kann, ist folgende Überlegung: Zweifach geimpfte Personen haben zirka 14 Tage nach der zweiten Impfung den höchsten Antikörpertiter, das heisst zumindest theoretisch dann die beste Abwehr. Ab dieser Zeit beginnt die Antikörper-Konzentration in der Blutbahn zu sinken und wird irgendwann, nach einem halben oder ganzen Jahr (allenfalls noch länger), unter den kritischen Wert sinken, an dem eine dritte, später dann vierte usw. Impfung nötig wird, um eine erneute Infektion zu vermeiden. Die wohl bessere und einfachere Möglichkeit wäre, dass geimpfte Personen immer wieder die «Chance» haben, mit Infizierten in Kontakt zu kommen und dabei (unbemerkt) ihren Antikörper-Titer wieder erhöhen. Dies ist bei anderen Infektionen als «stille Feiung» bestens bekannt. Konkret: Wenn sich die Geimpften noch lange schützen, wird die dritte Impfung zwangsläufig nötig werden. Oder etwas salopper formuliert: «Je Schutzmassnahmen, desto sicherer weitere Impfungen». Ungeimpfte dürfen frei entscheiden, sich nicht zu impfen und damit ihr Risiko «selber in die Hand nehmen». Ich möchte als Geimpfter auch selbst entscheiden können und mein Risiko abwägen. Ab sofort würde ich zum «Normalbetrieb» zurückkehren mit dem Wissen, dass Kontakte zu Infizierten mir eher nützen als schaden.
Noch ein Gedanke: mit Blick auf die ganze Weltbevölkerung ist es beinahe unethisch uns die dritte Impfung zu «schnappen», während andere auf der Erdkugel nicht mal die Chance für eine Erstimpfung haben.
Mein Fazit: sobald die Zahlen der Spitaleintritte wegen Covid-19 wieder sinken, Normalisierungsphase durchziehen, nicht nur davon reden. Aktuell ist diese nur ein anderes Etikett für einen unveränderten Inhalt.
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