
Weisse Pracht, schwarze Zahlen, rote Köpfe: Alpiner Tourismus jubelt über starken Saisonstart – anders die Skifahrer

Auf den Skipisten bleibt die Zahl der Unfälle in etwa gleich
Auf den Skipisten bleibt die Zahl der Unfälle in etwa gleich Zum Start in die Wintersaison gab es auch üble Unfälle. So knallte ein Skiraser in ein kleines Mädchen. Sie kam mit dem Schrecken und einer Prellung davon. Häufen sich derlei Unfälle? Nein, sagt die Beratungsstelle für Unfallverhütung. Die Zahl der Unfälle auf Schneesportpisten bewege sich seit 15 Jahren auf dem gleichen Niveau. Im Jahr 2010 sind 50500 Skifahrer verunfallt, 2016 waren es 51800. Snowboardfahrer sind 2010 rund 13900 verunfallt, 2016 noch 10500. Über den Seitwärtstrend kann man sich ärgern. Gegenmassnahmen helfen anscheinend kaum. Heute werden etwa öfter Helme getragen, die Pisten sind besser präpariert. Doch der Trend ist ein gewisser Erfolg. Es wird schneller gefahren. Pro Tag werden mehr Abfahrten gemacht. (nav)
Zum Start der Wintersaison zog es die Menschen auf die Skipisten. Die Bergbahnen transportierten rund 17 Prozent mehr Gäste als in den letzten fünf Jahren, wie der Verband Seilbahnen Schweiz mitteilt. Einige Skigebiete erreichten neue Tagesrekorde.
Die Kehrseite: Auf vielen Pisten wurde es eng. Die Wartezeiten vor den Liften waren teilweise hoch, doch oft war das nicht das Hauptproblem, weil in den grossen Skigebieten die Kapazitäten in den letzten Jahren ausgebaut wurden.
Für die Overtourism-These gibt es reichlich anekdotische Evidenz. Buchungssysteme sind unter dem Andrang kollabiert, hochgelobte Apps ebenso. Tagestouristen steckten im Stau, mussten sich vor den Ticketschaltern gedulden. In Parkhäusern kommt es zu Staus und später zur Schlagzeile: «Die Leute im Parkhaus wurden aggressiv.»
Tageskarte zu 103 Franken: Eine von vielen Folgen des Andrangs
Die Jungfraubahnen greifen zu einer Personenobergrenze, um das Gedrängel auf den Pisten zu beschränken. Neue dynamische Ticketpreise steigen in ungeahnte Höhen: Eine Tageskarte kostet 103 Franken.
Die Reaktionen auf dem Internet sind unerbittlich: Ab nach Österreich! Dort verstehe man sich noch auf Gastfreundschaft. Als besonders unerfreuliche Nebenwirkung des grossen Andrangs kommt es zu üblen Unfällen. Ein vierjähriges Mädchen wird von einem Skiraser umgefahren. Sie kommt mit blauen Flecken davon. Auch derlei Zusammenstösse passen in Schema, wonach der Dichtestress die Schweizer Pisten erreicht hat.
Dennoch hält man von dieser Deutung bei den Bergbahnen wenig. Um den Andrang zu erklären, müsse man nicht zu neuen Theorien greifen. Dies würden auch bekannte Mechanismen tun, heisst es beim Verband Seilbahnen Schweiz. Als eine der ältesten Regeln im Tourismus gelten die drei W, wonach Wetter, Wirtschaft und Währung das Geschäft bestimmen. Und vor allem das Wetter lässt den alpinen Tourismus in einem Glanz erscheinen, der schon verloren gegangen schien.
Das Mittelland versank nämlich im Nebel. Die Wirtschaftsmetropole Zürich vermarktet sich im Ausland erfolgreich als touristisches Tor zur Schweiz; die Zahl der Hotelübernachtungen erreicht selbst im Winter mittlerweile Höhen, die den klassischen Winterkantonen Wallis und Graubünden immer näher kommen. Doch in diesen Winterwochen wurde Zürich zumindest optisch vom alpinen Wintertourismus überstrahlt. Das strahlende Blau lockte massenweise Gäste aus dem grauen Mittelland an.
Der Wirtschaft – dem zweiten W – geht es zwar mässig. 2019 wächst sie nicht einmal halb so schnell wie 2018. Doch auf den Arbeitsmarkt hat sich das bisher kaum ausgewirkt. Mit der Währung war das dritte W einigermassen stabil. Nicht in den drei W enthalten, aber wichtig ist der Kalender. Die Feiertage lagen günstig. Angestellte mussten nur wenige Ferientage nehmen, um zwei Wochen freizuhaben.
Mit Overtourism hätten die Rekorde an den Festtagen nichts zu tun, sagt Andreas Keller, Sprecher des Seilbahn-Verbandes. «Wenn alles passt, zieht es die Menschen nach wie vor in die Höhe.» Spitzentage mit langen Schlangen habe es auch früher gegeben. Und an normalen Tagen seien die Wartezeiten viel länger gewesen als heute. Die Lifte waren vor zehn oder zwanzig Jahren deutlich langsamer. «Das Wissen darum ging vielleicht etwas vergessen in den Jahren, in denen das Interesse an Schweizer Skipisten geringer war.»
Die Verluste noch nicht aufgeholt, auch nach zehn Jahren nicht
Die Statistik scheint Keller recht zu geben. Auch in diesem Winter dürften die Gästezahlen zurückbleiben hinter dem Rekordwinter von 2008 (siehe Grafik). Damals erreichte der Skisport die Spitze seiner Popularität. Diesen Topwert wird die Branche irgendwann überbieten. Doch der neue Rekord wird nur bedeuten: Nach vielen Jahren sind die Verluste aufgeholt. So gesehen ist es verständlich, dass die Branche sich weit entfernt sieht von Overtourism.
Der Verweis auf die Vergangenheit wird den wenigsten Gästen den Ärger darüber nehmen, an Spitzentagen lange in Warteschlange zu stehen. Doch nicht an jedem sonnigen Tag wird der Ansturm künftig derart gross sein wie an diesem Saisonstart. Dessen Besonderheit lag darin, dass viele Faktoren zusammenkamen. Der Luzerner Tourismusprofessor Jürg Stettler sagt: «Über die Festtage hat fast alles gestimmt. Das kommt in dieser Ausprägung selten vor.» Zumal grosse Skigebiete umso populärer gewesen seien, weil einige kleine Gebiete geschlossen blieben oder nicht alle Pisten öffneten: In tieferen Lagen fehlte der Schnee.
Im alpinen Tourismus überwiegen Freude und Stolz. Der glänzende Saisonstart zeige, Wintersport sei nach wie vor ein beliebtes Freizeitvergnügen. Alles Gerede von seinem Tod sei genau das: Gerede. Auch in der alpinen Hotellerie deuten erste Rückmeldungen, die der Branchenverband erhalten hat, auf gute Zahlen hin.
Doch bleibt man vorsichtig. Neben den drei W gilt diese Regel: abgerechnet wird am Ende der Saison.