Flug-, Fleisch- und Konsumscham: Das Jahrzehnt des schlechten Gewissens – trotzdem haben wir noch Lebensfreude

Witze reissen, schlemmen oder reisen: Vieles, das einmal Spass gemacht hat und unbeschwert war, ist heute problematisch. Die Phänomene Flugscham, Fleischscham und Konsumscham dominieren die gesellschaftliche und politische Debatte. Auch der Fitnesswahn und die politisch korrekte und gendergerechte Sprache sind Kinder des letzten Jahrzehnts. Blickt man auf die vergangenen zehn Jahre zurück, erhält man den Eindruck, dass wir vieles nicht mehr tun dürfen. Und tun wir es doch, sollen wir ein schlechtes Gewissen haben. Doch nützt das schlechte Gewissen überhaupt etwas? Werden wir dadurch nicht bloss passiv und frustriert? Und haben wir durch die neuen Konventionen unsere Lebensfreude verloren?

Laut dem World Happiness Report sind wir eigentlich nicht weniger glücklich. In Europa sind die Menschen in den letzten zehn Jahren sogar leicht glücklicher geworden. Der Report zeigt aber auch, dass wir uns häufiger Sorgen machen und öfter traurig oder wütend sind. Einige Wissenschaftler glauben nun, dass das verstärkte Moralisieren eine wesentliche Rolle spielt. Einer von ihnen ist der Basler Glücksforscher Bruno S. Frey. «Diese Übermoral raubt einem die Freude und die Freiheit. So vieles darf man heute nicht mehr tun und so vieles darf man nicht mehr sagen – das macht definitiv unglücklich.»

Wissenschaftlich gestützt ist seine subjektive Einschätzung nicht, empirische Studien im Bereich der Glücksforschung oder in der Psychologie wurden zu diesen Phänomenen bislang nicht gemacht. Über das Gewissen und die Scham im Allgemeinen wird jedoch seit Generationen geforscht. Laut Lisa Frisch, die an der Universität Zürich in Sozialpsychologie doktoriert, ist das schlechte Gewissen grundsätzlich etwas Nützliches. Schlechtes Gewissen empfinden wir, wenn unser Verhalten nicht mit unseren persönlichen Zielen oder gesellschaftlichen Normen übereinstimmt. Es entsteht durch die Diskrepanz zwischen dem, was wir tun sollten und dem, was wir tatsächlich tun. Das können wir als Individuum oder als Teil einer Gruppe erleben.»

Viele Akteure wissen das schlechte Gewissen auszunutzen

Das schlechte Gewissen hat demnach eine wichtige evolutionsbiologische Funktion. Dadurch, dass wir uns an gemeingültige Normen halten, werden wir nicht zu Dieben, Mördern oder Psychopathen, denen jegliche Empathie, soziale Verantwortung und Schuldgefühl fremd sind. Das schlechte Gewissen hält wie ein Kitt unsere Gesellschaft zusammen, beschrieb es einst die «Zeit» in ihrem Wissensmagazin. Die Scham ist dabei eine noch quälendere Empfindung über die Einsicht, in moralischer Hinsicht versagt zu haben.

«Schlechtes Gewissen erleben wir aus der Sorge heraus, aus einer Gruppe ausgeschlossen zu werden», sagt Lisa Frisch. «Wir orientieren uns an Normen, die uns Zugehörigkeit verschaffen. Weichen wir von der Norm ab, begeben wir uns fast in eine Täterrolle und können dafür bisweilen sogar bestraft werden. Das schlechte Gewissen ist also ein mächtiger Motivator für ein gesellschaftlich akzeptiertes Verhalten.»

Genau dies wissen viele Akteure auszunutzen. Beispielsweise Unternehmen, die uns durch Werbung das Gefühl geben wollen, ohne dieses und jenes Produkt nicht dazuzugehören. Oder Politiker, die eine Reform als einzigen Ausweg darstellen, damit das Land nicht vor die Hunde geht. Durch Social Media hat das Zurechtweisen ausserdem eine neue Dimension erreicht. Auf jemanden mit dem Finger zu zeigen, war noch nie einfacher.

Dennoch glaubt Frisch nicht, dass unser schlechtes Gewissen schlimmer geworden ist. «Normen hatten die Menschen schon immer. Früher war die Akzeptanz unterschiedlicher Lebensweisen wie Veganismus ausserdem noch viel tiefer.» Verändert habe sich durch die modernen Kommunikationskanäle allerdings die Präsenz gewisser Normen. «Dadurch fühlen wir uns mit dem gesellschaftlich gewünschten Verhalten ständig konfrontiert. Das eigene Abweichen wird uns häufiger bewusst.»

Der deutsche Sozialpsychologe Harald Welzer weist nun allerdings darauf hin, dass etwa Reisen und Fleischessen immer noch die Norm sind. «Shaming gibt es in diesem Zusammenhang deshalb nicht», sagt er gegenüber dieser Zeitung. «Für unseren dekadenten Lebensstil fühlen wir uns nicht beschämt. Das zeigen die Zahlen deutlich – es gibt immer mehr Flieger, Kreuzfahrtschiffe und Autos. Flugscham zum Beispiel hat rein gar nichts mit uns gemacht.»

Die Klimabewegung Fridays for ­Future um Aktivistin Greta Thunberg sei die erste relevante Veränderung in Jahren. Die Mehrheit der Leute verteidige aber weiter «aggressiv» ihr Lebensmodell. «Vielleicht wissen sie insgeheim, dass es für das 21. Jahrhundert nicht mehr funktioniert. Das Problem ist aber, dass überall Lebensstile der Verschwendung angepriesen werden.» Harald Welzer plädiert stattdessen für alternative Lebensmodelle und Zukunftsbilder, welche er auch in seinem Sachbuch-Bestseller «Alles könnte anders sein» beschreibt. «Wir brauchen etwas, das jenseits von Reichtum und Konsum ist», sagt er. «Dafür reicht es nicht, mit der Moralkeule zu schwingen. Die alternativen Modelle müssen erstrebenswerter sein. Mehr Zeit zu haben, könnte ein solches Bild sein.»

Ein Mensch muss nicht auf allen Ebenen konsequent sein

Doch wie sollen wir in der momentanen Situation weitermachen? Und wie verhindern wir ein dauerhaft schlechtes Gewissen, sofern wir denn eins haben? Loswerden will man dieses ungute Gefühl ja immer. Die Antwort aus der Psychologie klingt zunächst einfach: Nur wo eine begründete Schuld und ein konkretes Fehlverhalten ist, sollte auch ein schlechtes Gewissen sein. Sozialpsychologin Lisa Frisch sagt: «Statt sich von externen Botschaften beherrschen zu lassen, muss jeder für sich selbst klären, welche Ziele und Normen einem wichtig sind.» Die Schwierigkeit ist aber, dass man nicht immer ehrlich mit sich ist und seine Prioritäten nicht abschliessend klärt. Auf diese Weise entstehen paradoxe Situationen, in denen Leute Grüne wählen, aber weiterhin mit dem SUV zum Einkaufen fahren. Oder sie kaufen sich ein teures Fitness­abo und verbringen die Abende trotzdem faul auf der Couch. Sich auf diese Weise seines schlechten Gewissens entledigen zu wollen, führe langfristig in eine Sackgasse. Ebenso die Haltung, dass man ohnehin nicht alles richtig machen könne, weshalb man auch gleich auf alles pfeifen dürfe.

Ein einzelner Mensch muss nicht auf allen Ebenen konsequent sein, sondern nur dort, wo er wirkt, sagte der Philosophieprofessor Markus Wild in einem Interview mit der «Basellandschaftlichen Zeitung». «Ansonsten müssten wir ja alle Heilige oder Superhelden sein.» Wild kritisiert, dass die Verantwortung zu häufig den Einzelnen überlassen wird. Eine Minderheit könne kollektive Probleme jedoch nicht lösen. Dennoch gelte es, die eigenen Prioritäten zu klären und so konsequent wie möglich danach zu handeln. Psychologen empfehlen dabei radikale Ehrlichkeit: Es könne zum Beispiel erlösend sein, sich einzugestehen, dass man mit seinem Körper zufrieden ist, obwohl er nicht dem Schönheitsideal entspricht.

Dass das Selbstgespräch mit dem Gewissen Strenge, Mässigung und permanente Arbeit an uns selbst erfordert, ist wichtig, sagt Markus Wild im Interview. Dies bedeute aber nicht, dass wir weniger Lebensfreude und Unbeschwertheit empfinden würden. «Wir haben ein Bild vom glücklichen Leben, das nur das subjektive Wohlbefinden ins Zentrum rückt. Für mich bedeutet ein philosophisch glückliches Leben aber ein gelungenes Leben. Es geht nicht um den augenblicklichen Glücksmoment. Am Ende dieses Lebens möchte ich sagen können, ich habe meine Zeit sinnvoll eingesetzt.

Elektrisch gegen die Scham

Ein Blick zurück in die Ausstellungshallen des Genfer Autosalons macht vieles deutlich. Noch ohne jedes schlechte Gewissen der Autohersteller reihen sich anfangs dieser Dekade Benzin- an Dieselautos im internationalen Scheinwerferlicht. Effizienz ist zwar schon damals ein Thema, allerdings beschränkt sich diese doch sehr auf den Verbrauch fossiler Treibstoffe und den daraus entstehenden Schadstoffausstoss. Überraschend ist allerdings, dass im Jahr 2011 der Nissan Leaf zum Auto des Jahres gewählt wird. Und der Nissan Leaf ist ein Elektroauto. Wie ein Pandabär im Zoo gilt ein solches Auto damals als Exot, den sich mangels Alltagstauglichkeit niemand in seiner Garage wünscht. Präsentiert werden sie in Sonderausstellungen fernab des Hauptstroms der Besucher in grün bezeichneten Hallenteilen der Palexpo.

Doch mit dem Fortschreiten des Jahrzehnts wird die Zahl der Elektroautos am Autosalon grösser. Im Jahr 2013 rücken Hybridfahrzeuge, die den Verbrenner- mit Elektromotor verbinden, sowie reine Elektroautos an den Automessen auf die Hauptstände der Autohersteller hervor. Zwar stellt Tesla sein Trend setzendes Model S nie am Genfer Autosalon aus. Trotzdem ist der Druck von Elon Musks teuren Sportelektroboliden zu spüren. Auch die lange zurückhaltenden deutschen Hersteller fahren nun plötzlich mit Vollgas elektrisch. Auch gezwungen durch europäische und amerikanische Schadstoffgrenzwerte, die ohne Elektrifizierung der Autopalette nicht zu erreichen sind. Eine eigentliche Autoscham ist in diesem Jahrzehnt nicht entstanden, bullige SUV verkaufen sich immer noch bestens, und die Zahl verkaufter Elektroautos ist immer noch klein.

Gesprochen wird mehr über die Flugscham, denn Flugreisen belasten die Umwelt deutlich mehr als solche mit dem Auto. Die Flugscham führt vielleicht dazu, dass mehr Menschen einen Ablasshandel bei My Climate eingehen. Auf den Flughäfen warten trotzdem weiterhin immer mehr Menschen auf ihren Abflug.

Wir haben zu viele Kleider im Schrank

Über Flugscham und veganes Essen wird sehr viel geschrieben und diskutiert – doch darüber, was für Kleider wir tragen, herrscht auch 2019 noch mehrheitlich Stillschweigen. Erstaunlich, denn die Textilbranche produziert mehr CO2 als der internationale Flugverkehr und die Seefahrt zusammen. Die Fast-Fashion-Industrie gilt als die schmutzigste der Welt. Die Gründe dafür sind laut einer aktuellen Umfrage von Greenpeace jedem Teenager bekannt: extrem hoher Wasserverbrauch (bis zu 6000 Liter für eine Jeans), Einsatz von hochgiftigen Chemikalien bei Anbau und Weiterverarbeitung, lange Transportwege. Trotzdem schauen die allermeisten beim Kleiderkaufen vor allem auf das Design und den Preis. Doch nicht nur der Umwelt zuliebe wäre es Zeit für mehr nachhaltige Mode. Menschen, die in Anbau- und Verarbeitungsländern der Textilbranche leben, leiden nicht nur unter der Zerstörung ihrer direkten Umwelt. Oft arbeiten sie unter gefährlichen Bedingungen für einen minimalen Lohn. Zwar hat sich seit dem Unglück in der Textilfabrik Rana Plaza in Bangladesch 2013 mit über 1000 Todesopfern viel getan. Doch bis heute werden immer wieder Fälle von Kinderarbeit und sklavenähnlichen Verhältnissen in der Branche bekannt.

Grosse Organisationen wie Greenpeace kämpfen seit Jahren für eine saubere Textilindustrie. Mit ersten Erfolgen. Immer mehr der hochgiftigen Chemikalien werden verboten. Neue Fasern wie Modal, welche bei der Herstellung weniger Wasser benötigen, setzten sich langsam durch. Und Modegigant H&M erklärte, bis 2040 komplett auf erneuerbare Energien zu setzten und ein zyklisches Produktionsmodell einzuführen. Zudem sind zahlreiche Label geschaffen worden, welche den Konsumenten mehr Transparenz beim Kleiderkaufen ermöglichen sollen. Das Einfachste wäre aber auch hier: weniger und wenn, nachhaltig produzierte Kleider kaufen.

Gelüste kommen vor dem Gewissen

Wer guten Gewissens durchs Leben wandeln will, schraubt den Konsum tierischer Produkte zurück – aus ethischen, ökologischen und gesundheitlichen Gründen. Diese Überzeugung scheint sich durchzusetzen. War es früher ein Muss, Gästen Fleisch aufzutischen, so ist es heute für viele Gastgeber selbstverständlich, zumindest eine fleischlose Alternative zu offerieren. Vegetarier haben das Image des Körnlipickers hinter sich gelassen, auch weil das vegetarische Angebot besser geworden ist. Vegiburger schmecken nicht mehr nach Verzicht, sondern nach urbanem Leben.

Doch was sagen die Zahlen? Im Jahr 2018 wurden in der Schweiz pro Kopf 52,1 Kilogramm Fleisch gegessen. Im Jahr 2009 waren es 52,4 Kilogramm gewesen. Also praktisch gleich viel. Vegetarismus und Veganismus legen zwar zu, aber auf tiefem Niveau. Ähnlich sieht es beim Bio-Trend aus. Der Anteil biologisch produzierter Nahrungsmittel wächst kontinuierlich, lag 2018 aber bei gerade mal zehn Prozent. Die Statistik zeigt zudem, wo Biokäufer inkonsequent sind: bei Getränken sowie bei Süsswaren und salzigen Snacks liegt der Bio-Anteil am tiefsten. Und apropos süss – seit zehn Jahren wird mehr Coca-Cola zero als Coca-Cola light verkauft, doch der Zuckerkonsum pro Kopf sinkt nicht. Die kleinen Gelüste sind offenbar stärker als das Gewissen.

Das Gottlieb Duttweiler Institut beobachtet punkto Essen eine emotionale «Sehnsucht nach Natürlichkeit». Diese kann zu Widersprüchen führen. Der Plastiksack wird durch die Baumwolltasche ersetzt, deren Produktion die Umwelt weit stärker belastet. Der Wein wird mit dem VW-Bus direkt beim Biowinzer geholt, statt ihn – ökologisch sinnvoller – mit dem Velo im nahen Supermarkt zu kaufen. Doch auch wenn die Handlungen nicht immer durchdacht sind, bleiben die Absichten ehrlich. Die Parlamentswahlen vom Herbst deuten darauf hin, dass mehr Menschen denn je eine grüne Schweiz wollen. Und auch bereit wären, politische Massnahmen in Kauf zu nehmen, die ihren Lebensstil betreffen könnten.