
Ruth Müri will die erste grüne Ständerätin des Aargaus werden: «Ich habe bessere Chancen als Cédric Wermuth»
Seit drei Tagen ist Ruth Müri die Hoffnungsträgerin des rot-grünen Lagers im Aargau. Nach dem Verzicht von SP-Kandidat Cédric Wermuth ist die Grünen-Grossrätin die einzige linke Kandidatin im zweiten Ständerats-Wahlgang. Die AZ trifft sie im Kulturcafé in Baden, wo Müri auch sonst gern zum Kaffee einkehrt.
Hätten Sie am Wahlsonntag damit gerechnet, dass Sie am Dienstag als gemeinsame Kandidatin von SP und Grünen für den Ständerat dastehen würden?
Ruth Müri: Ich war schon freudig überrascht. Es war aber von Anfang an klar, dass wir miteinander die Resultate analysieren und das weitere Vorgehen besprechen wollten. Wir haben von Sonntagabend bis Dienstagmittag Gespräche geführt, dann stand die Entscheidung fest – ein solcher Prozess braucht ein bisschen Zeit.
Cédric Wermuth sagte am Dienstag an der Medienkonferenz, sein Verzicht sei seine persönliche Entscheidung gewesen. Gilt das für Sie auch, hätten Sie sagen können, «ich will nicht mitmachen, ich sehe keine Chance»?
Natürlich hätte ich Nein sagen können, aber nicht mit diesem guten Resultat. Zudem ist für mich klar, wenn man sich für den ersten Wahlgang aufstellen lässt, ist man auch bereit, in die zweite Runde zu gehen.
Sie haben im ersten Wahlgang als Viertplatzierte gut 40 000 Stimmen erzielt, SVP-Kandidat Hansjörg Knecht auf Platz 2 gut 72 000 – wie wollen Sie diesen riesigen Rückstand aufholen?
Das ist jetzt die grosse Herausforderung. Meine Chancen stehen aber gut, so hat zum Beispiel die GLP beschlossen, mich zu unterstützen. Ich bin überzeugt, dass es viele Wählerinnen und Wähler gibt, die keine rein bürgerliche Standesstimme wollen, sondern eine ausgewogene Vertretung des Kantons im Stöckli.
Es braucht aus meiner Sicht eine Mischung aus eher konservativen und eher progressiven Kräften. Ich bin überzeugt, dass es machbar ist, dass ich Chancen habe, als erste Grüne aus dem Aargau in den Ständerat gewählt zu werden.
SVP und FDP haben zusammen 45 Prozent Wähleranteil. Grüne, SP und GLP kommen zusammen auf 35 Prozent. In der Mitte kandidiert noch Marianne Binder von der CVP – wo wollen Sie die nötigen Stimmen holen?
Ich glaube, dass viele Wählerinnen und Wähler nicht aufgrund einer Parteizugehörigkeit entscheiden. Es gibt ja auch sehr viele Leute, die sich als partei-unabhängig bezeichnen. Diese möchten ganz einfach zwei Personen nach Bern schicken, bei denen sie das Gefühl haben, dass sie den Aargau dort gut vertreten. Ich möchte den Wählerinnen und Wählern eine progressive Alternative zu zwei rechtsbürgerlichen Männern bieten.
Sie haben am Dienstag vor den Medien gesagt, der Aargau wäre mit zwei rechtsbürgerlichen Männern im Ständerat nicht ausgewogen vertreten – was wäre denn Ihre Wunschvertretung?
Ich bin offen für eine Zusammenarbeit mit allen Kandidatinnen und Kandidaten, die in den Ständerat gewählt werden. Als Stadträtin in Baden bin ich es gewohnt, mit Politikerinnen und Politikern aus anderen Parteien zusammenzuarbeiten.
Ein wichtiges Ziel ist es sicher, eine Kombination von Thierry Burkart und Hansjörg Knecht im Ständerat zu verhindern. Ich kann mir gemeinsame Auftritte mit Marianne Binder, die ich schon lange kenne, im Wahlkampf durchaus vorstellen.
Wenn Sie und Binder gewählt würden, wären das zwei Frauen von Mitte-links, also auch keine ausgewogene Vertretung.
Das stimmt, das wäre bezogen aufs Geschlecht nicht ausgewogen, auf die Positionen eher schon. Vielleicht müsste es eine andere Kombination sein – aber das bestimmen die Wählerinnen und Wähler am 24. November.
Was wäre denn ausgewogen – einmal Mann, einmal Frau, einmal bürgerlich, einmal links?
Ja, das hatten wir in den letzten acht Jahren mit Pascale Bruderer von der SP und zuerst Christine Egerszegi, dann Philipp Müller von der FDP. Der ganze Aargau war so aus meiner Sicht im Ständerat gut vertreten.
Zurück zu Ihrem Wahlkampf: Warum sollten Sie die besseren Chancen haben als Cédric Wermuth – er hat im ersten Wahlgang am Sonntag schliesslich 15 000 Stimmen mehr gemacht als Sie?
Ich habe bessere Chancen, weil ich ein anderes Profil habe als Cédric Wermuth: Ich kann Stimmen bis weit in die politische Mitte und in bürgerliche Wählerkreise hinein holen.
Cédric Wermuth war der klar linke Kandidat, der auf Twitter schrieb, er werde seine politischen Positionen nicht ändern, um in den Ständerat zu kommen. Sie treten moderater auf, sind als Stadträtin die Frau, die Mehrheiten und Allianzen sucht – sind das bessere Voraussetzungen?
Viele haben von Cédric Wermuth wohl noch das Bild des radikalen Juso- Präsidenten. Das ist er jedoch schon lange nicht mehr, dieses Bild ist veraltet und stimmt heute nicht mehr. Trotzdem glaube ich, dass die Voraussetzungen für mich besser sind.
Ich bin bekannt dafür, dass ich unaufgeregt politisiere, dass mir die Sache sehr wichtig ist und dass ich pragmatisch und konstruktiv nach mehrheitsfähigen Lösungen mit allen Lagern suche. Ich glaube deshalb, dass ich auch für viele Leute wählbar bin, die sich nicht als links bezeichnen.
Bei den Panaschierstimmen von Wählern anderer Parteien auf der Nationalratsliste liegen Sie mit Hansjörg Knecht etwa gleichauf. Sie und er haben etwa dasselbe Potenzial, in der Mitte Stimmen zu gewinnen –das würde nicht reichen für Ihre Wahl.
Das mag durchaus zutreffen, wenn man diese Statistik anschaut – ich bin trotzdem optimistisch. Mein Motto für den zweiten Wahlgang lautet: Es ist eine Herausforderung, aber ich kann gewinnen.
Sie setzen darauf, dass die Klima- und Frauenwahl Sie ins Stöckli bringt. Sie waren am Frauenstreik und an Klimademos – macht Sie das nicht für viele bürgerliche Wähler unwählbar, deren Stimmen Sie aber brauchen?
Das glaube ich nicht. Die Klimabewegung ist grundsätzlich politisch neutral, sie gehört auch nicht in die linke Ecke. Die Jugendlichen machen auf ein Problem aufmerksam, das sie extrem beschäftigt. Es stimmt, dass sich die Parteien mit «Grün» im Namen und die SP mit diesem Thema befassen. Die Grünen tun dies aber schon lange, nicht erst seit den Klimastreiks – zudem ist der Klimawandel eindeutig die grösste Herausforderung für die Zukunft. Das Thema wird uns in den nächsten Jahren und Jahrzehnten ganz direkt betreffen.
Sie haben sich an Wahlpodien für eine Flugticketabgabe ausgesprochen – Cédric Wermuth hat ein Verbot von Kurzstreckenflügen an Ziele gefordert, die in zehn Stunden mit dem Zug erreichbar sind. Würden Sie auch so weit gehen?
Wenn es sinnvolle andere Mittel gibt, die etwas bewirken, bin ich gegen Verbote. Ich bin nur dann für ein Verbot, wenn es klar die beste Möglichkeit ist, ein Problem zu lösen. Zwei klassische Beispiele: das Verbot von bleihaltigem Benzin und die Einführung des Katalysators. Die Autobranche ist deswegen nicht untergegangen, die positiven Auswirkungen auf die Luftqualität waren hingegen enorm.
Mit welchen Mitteln wollen Sie den CO2-Ausstoss reduzieren?
In gewissen Bereichen braucht es Verbote – es ist sicher nicht sinnvoll, wenn in Neubauten weiterhin Ölheizungen installiert werden dürfen. Grundsätzlich müssen klimaschädliche Gase einen Preis bekommen, es braucht eine CO2-Abgabe. Wir brauchen eine Kostenwahrheit, damit die heutigen Fehlanreize – wie zum Beispiel sehr günstige Transporte – beseitigt werden. Wir konsumieren heute klar zu viel und wälzen die Folgen davon auf die künftigen Generationen ab.
Vor einem Jahr sagten Sie im AZ- Interview: «Ich habe einen ganz anderen Hintergrund als Cédric Wermuth. Ich bin Sachpolitikerin, habe keine Berührungsängste mit der Wirtschaft und bringe beruflich diesen Background mit.» Setzen Sie im Wahlkampf darauf, diese Unterschiede zu betonen?
Vielleicht muss ich diese Merkmale in meinem Profil noch stärker betonen, denn sie gehören zu meiner Persönlichkeit und zu meinem Auftreten. Ich war in Baden zum Beispiel zwischenzeitlich für das Standortmarketing zuständig und habe auch gute Kontakte zu Vertretern von Firmen wie ABB und anderen. Dabei werde ich als verlässliche und kompetente Gesprächspartnerin akzeptiert.
Im Wahlkampf werden Sie von den Sozialdemokraten und den Grünliberalen unterstützt. Vor
einem Jahr sagten Sie, die SP sei Ihnen teilweise zu dogmatisch, die GLP eine bürgerliche Partei, die Bildungsabbau unterstütze …
Zu diesen Aussagen stehe ich heute noch, ich stimme auch im Grossen Rat nicht immer wie SP oder GLP. In wichtigen Positionen stimmen wir überein, und das ist, was zählt. Man nimmt den grössten gemeinsamen Nenner, und nach diesem Grundsatz arbeite ich. Und diese Schnittmengen existieren in gewissen Bereichen auch mit der FDP und der CVP.
Bei den Nationalratswahlen hatten die Grünliberalen eine Listenverbindung mit der CVP, im zweiten Ständerats-Wahlgang empfiehlt die GLP nun Sie – was sagen Sie zu diesem Schwenker?
Ich freue mich, dass die Klimaallianz nun nachträglich wenigstens bei den Ständeratswahlen zustande kommt. Es ist schade, dass es diese Verbindung bei den Nationalratswahlen nicht gab, aber ich freue mich, dass die GLP mich jetzt unterstützt.
Sie sind Geografin, haben bei der Zürcher Kantonalbank gearbeitet, sitzen unter anderem im Schulvorstand beim KV Baden – das könnte ein bürgerliches Profil sein. Wie sind Sie überhaupt zu den Grünen gekommen?
Ich wurde in Baden politisiert und bin Mitglied im Team Baden. Im Einwohnerrat besteht eine Fraktionsgemeinschaft mit den Grünen, auf kantonaler und nationaler Ebene bin ich Grünen-Mitglied. Das Team Baden hat einen liberalen Ursprung. Ich habe mich als junge Frau bewusst für das Team entschieden, weil diese Mitte-links-Position mir entspricht.
Cédric Wermuth sagte, er werde seine Wahlkampfmaschinerie nun Ihnen zur Verfügung stellen. Ist das so einfach möglich?
Nein, man kann natürlich auf seinen Flyern oder in seinen Mailings nicht einfach den Namen Cédric Wermuth durch Ruth Müri ersetzen. Er hat aber einen sehr eindrücklichen Wahlkampf geführt und wir werden sicher gewisse Instrumente nutzen können. Ich werde sicher auch viel mit Yvonne Feri unterwegs sein, die als gemeinsame Kandidatin von SP und Grünen für den Regierungsrat antritt.
SVP-Präsident Thomas Burgherr sagte im «TalkTäglich» von Tele M1, Sie seien in Bundesbern völlig unbekannt und nicht vernetzt, dies sei ein massiver Nachteil für eine mögliche Ständerätin …
Ständeratswahlen sind Persönlichkeitswahlen. Als Exekutivpolitikerin mit langjähriger Politerfahrung habe ich ein optimales Profil. Mit dem Bildungsnetzwerk Baden, in dem sich die Wirtschaft, Bildungsanbieter und die öffentliche Hand intensiv austauschen und gemeinsam Projekte entwickeln, habe ich gezeigt, dass ich eine gute Netzwerkerin bin.