
Bei der SVP wackeln 13 Sitze, die Grünen könnten 11 gewinnen – die Analyse

Die hauchdünne Mehrheit von SVP und FDP dürfte nach den eidgenössischen Wahlen Geschichte sein. Das liegt in erster Linie an der schwächelnden SVP, die unter der Klimadebatte leidet. Die wählerstärkste Partei würde gerne über das ungeliebte Rahmenabkommen mit der EU streiten. Doch die Konkurrenten zeigen derzeit kein grosses Interesse an einer Europadebatte. Auch die Migration ist anders als vor vier Jahren kein dominierendes Thema.
Die jüngsten kantonalen Wahlen sind ein Indikator, wie sich diese Grosswetterlage auswirken könnte: Die SVP muss mit Sitzverlusten rechnen, die Grünen und die Grünliberalen dürften dazugewinnen. Die FDP, lange auf Erfolgskurs, hat an Schwung verloren. Der Niedergang der CVP scheint sich fortzusetzen, die BDP muss gar um ihre Fraktionsstärke bangen.
Die SP stagniert zwar derzeit bei den Umfragen (siehe Kontext unten). Trotzdem können die Sozialdemokraten im Idealfall mit Sitzgewinnen rechnen. Dies zeigt eine Auswertung des Zeitungsverbundes CH Media. Kantonsredaktionen, Korrespondenten sowie die Bundeshausredaktion haben für jeden Kanton die potenziellen Verluste und Gewinne pro Partei zusammengetragen.
Bei der Interpretation der Resultate ist Vorsicht geboten: Haben beispielsweise in einem Kanton sowohl die Grünen wie auch die SP Aussicht auf einen zusätzlichen Sitz, dann lassen sich daraus nicht zwei Sitzgewinne für das linke Lager herauslesen. Denn der Sitz dürfte entweder an die eine oder an die andere Partei gehen. Die ausführliche Analyse wird der morgigen Ausgabe beiliegen. Im Folgenden eine Zusammenfassung der Resultate:
SVP: Die grösste Abordnung aller Zeiten wird schrumpfen
- Sitze 2015: 65
- Wackelsitze: 13 (AG, AR, BS, BE, GR, LU, NE, FR, SG, TG, UR, 2 in ZH)
- Mögliche Sitzgewinne: 3 (AI, GE, OW)
65 Sitze hält die SVP heute im Nationalrat – noch nie seit der Einführung des Proporzwahlrechts besetzte eine Partei einen derart grossen Teil des Ratssaals. Doch Stand heute wird die Deputation wieder schrumpfen: Gleich 13 SVP-Sitze wackeln.
Unter Druck steht die Partei beispielsweise im Aargau, wo es sieben Mandate zu verteidigen gilt – und die SVP gleich vier langjährige Nationalräte ersetzen muss, wobei Luzi Stamm und Maximilian Reimann auf anderen Listen noch einmal antreten.
Zittern müssen die SVP des Kanton Bern, dem ein Sitz weggenommen wird, oder auch die Sektionen in Graubünden, Luzern und St. Gallen. In der Romandie muss die SVP insbesondere um ihren Sitz in Neuenburg bangen. In Zürich könnte die Sünneli-Partei im äussersten Fall gleich zwei Sitze einbüssen. Dafür winkt der Gewinn des einzigen Obwaldner Sitzes. In Appenzell-Innerrhoden könnte die SVP von der Uneinigkeit innerhalb der CVP profitieren.
SP: Gute Chancen, die Verluste von 2015 zu kitten
- Sitze 2015: 43
- Wackelsitze: 1 (SO)
- mögliche Sitzgewinne: 7 (AG, BS, LU, VD, FR, VS, UR)
Ein minimales Plus beim Wähleranteil, aber drei Sitzverluste: Das war die Bilanz der SP bei den Wahlen vor vier Jahren. Die Chancen sind intakt, dass die Sozialdemokraten die verlorenen Mandate im Herbst zurückholen können. Möglich scheint etwa ein Sitzgewinn im Wallis auf Kosten der C-Parteien. Allerdings haben dort auch die Grünen gute Chancen.
Aussichten auf einen zusätzlichen Nationalrat hat die SP auch im Kanton Waadt, wo im Vergleich zu 2015 ein Sitz mehr zu vergeben ist und wo Gewerkschaftsbund-Präsident Pierre-Yves Maillard ein Comeback in Bundesbern anstrebt.
Im Aargau könnte der Versuch, den vor vier Jahren verlorenen dritten Sitz zurückzugewinnen, erfolgreich sein. Auf der Kippe steht der Sitz in Solothurn.
FDP: Nur einzelne Sitzgewinne zu erwarten
- Sitze 2015: 33
- Wackelsitze: 2 (GE, ZG)
- mögliche Sitzgewinne: 5 (AR, BS, GR, NE, UR)
2015 konnte der Freisinn seinen jahrelangen Niedergang stoppen und erstmals seit 1979 wieder Wähleranteile gewinnen. Zusammen mit der SVP verfügt die FDP derzeit über eine theoretische Mehrheit von 101 Sitzen im Nationalrat. Die Klimadebatte zeigte aber zuletzt besonders deutlich den tiefen Graben zwischen den beiden Parteien auf.
Und sie bremste den guten Lauf der FDP, die sich erst spät zu einer handfesten Klimapolitik bekannte. In Umfragen liegt die Partei in etwa auf dem Niveau von 2015, grosse Verschiebungen sind nicht zu erwarten. Chancen auf einen Sitzgewinn bestehen im Kanton Uri, wo der einzige Nationalratssitz neu vergeben wird und das Rennen deshalb offen ist.
Zu kämpfen haben wird die FDP in Genf, wo die Partei unter der Affäre rund um ihren ehemaligen Bundesratskandidaten und Regierungsrat Pierre Maudet leidet. Delikat ist die Lage zudem im Kanton Zug, wo die FDP keinen klingenden Namen für die Nachfolge von Bruno Pezzatti präsentieren kann.
CVP: Über ein Drittel der Sitze wackelt
- Sitze 2015: 27
- Wackelsitze: 10 (AI, LU, GE, VD, FR, VS, TI, OW, SG, ZH)
- mögliche Sitzgewinne: 1 (UR)
Anders als die FDP konnte die CVP die Abwärtsspirale bislang nicht aufhalten, sie droht beim Wähleranteil hinter die Grünen zurückzufallen. Mehr als ein Drittel der heute 27 Sitze sind gefährdet. In Luzern mussten die Christlichdemokraten bei den kantonalen Wahlen Ende März empfindliche Verluste hinnehmen, der dritte Nationalratssitz ist bedroht – zumal im Kanton ein Mandat weniger zu vergeben ist.
Die Nordkorea-Reise des Waadtländer Nationalrats Claude Béglé hat nicht dazu beigetragen, den dortigen Wackelsitz zu festigen. In der C-Hochburg Wallis droht der Partei ebenfalls ein Sitzverlust. Die heutigen Amtsinhaber sind noch nicht lange in Bundesbern und mit Viola Amherd sitzt die bekannteste Vertreterin inzwischen im Bundesrat.
In Freiburg muss die CVP um den Sitz von Dominique de Buman zittern, der sich nach 16 Jahren aus dem Nationalrat verabschiedet. Intakte Chancen auf einen zusätzlichen Sitz hat die CVP in Uri.
Grüne: Klare Zugewinne – gar eine Verdoppelung?
- Sitze 2015: 11
- Wackelsitze: 1 (BS)
- mögliche Sitzgewinne: 11 (GE, NE, VD, FR, VS, TI, SO, SG, TG, ZG, ZH)
Die Grünen sind im Hoch. Ein Ergebnis wie 2007, als die Partei 20 Sitze ergatterte, liegt in der Luft. Das wäre nahezu eine Verdoppelung gegenüber den 11 Sitzen von heute. In Zürich, wo die Partei bei den kantonalen Wahlen im Frühling stark zulegen konnte, ist ein Sitzgewinn wahrscheinlich.
Gute Aussichten hat die derzeit fünftgrösste Partei zudem in Genf und St. Gallen, wo die vor vier Jahren abgewählte Yvonne Gilli wieder antritt. Möglich sind grüne Sitzgewinne zudem unter anderem in den Kantonen Solothurn, Thurgau und Waadt. Um ihre Wiederwahl bangen muss dafür die Basler Nationalrätin Sibel Arslan, die 2015 den Sprung nach Bern nur mit einem hauchdünnen Vorsprung schaffte.
GLP: Mehrere Chancen für ein Comeback
- Sitze 2015: 7
- Wackelsitze: 0
- mögliche Sitzgewinne: 6 (BS, GR, LU, SG, TG, ZH)
Von der Hochkonjunktur grüner Themen profitiert derzeit auch die zweite Partei, die grün im Namen trägt. Die Grünliberalen können mit bis zu sechs zusätzlichen Sitzen rechnen, womit sie etwa auf dem Stand von 2011 wären. Damals gewann die GLP die Hälfte der Sitze dank Listenverbindungen.
Genau diese Verbindungen sind es auch, die Wahlprognosen zusätzlich erschweren. Sagen lässt sich aber, dass die GLP unter anderem in den Kantonen St. Gallen, Thurgau und Luzern reelle Chancen auf einen Nationalratssitz hat. In diesen Kantonen wurde vor vier Jahren der GLP-Vertreter abgewählt. Auf einen Sitzgewinn hoffen können die Grünliberalen zudem in ihrer Hochburg Zürich.
BDP: Die Fraktionsstärke ist gefährdet
- Sitze 2015: 7
- Wackelsitze: 3 (AG, GR, ZH)
- mögliche Sitzgewinne: 0
In die andere Richtung zeigt die Tendenz bei der anderen kleinen Mittepartei. Zugewinne liegen für die BDP ausser Reichweite. Die Partei kann ihren Wahlkampf deshalb auf jene fünf Kantone konzentrieren, in denen sie einen Sitz zu verteidigen hat.
Am schwierigsten dürfte dieses Unterfangen in den Kantonen Aargau, Graubünden und Zürich werden. Im Fall von drei Sitzverlusten hätte die BDP neu nur noch vier Sitze und würde damit keine Fraktionsstärke mehr aufweisen. Immerhin: Parteipräsident Martin Landolt sollte in Glarus die Wiederwahl schaffen.
Zeichen stehen auf Kontinuität
Ständerat und Nationalrat: Die beiden Kammern politisieren in der ablaufenden Legislatur teilweise sehr unterschiedlich. Sie ticken politisch anders. Im 46-köpfigen Ständerat ist die SVP (5 Sitze) marginalisiert. CVP (14), FDP (12) und Rot-Grün (13) sind ähnlich stark und können unterschiedliche Mehrheiten bilden.
Zwar treten fast die Hälfte der Ständeräte zurück. Dennoch stehen die Zeichen auf parteipolitischer Kontinuität, wie eine Auswertung der Redaktionen des CH-Media-Verbundes zeigt. Stärkste Partei wird voraussichtlich die CVP bleiben. Grösste Herausforderung ist für sie die Verteidigung des Luzerner Sitzes.
Dort fordert Nationalrat Franz Grüter (SVP) seine Ratskollegin Andrea Gmür (CVP) heraus. Sie kann jedoch auf die Unterstützung der FDP zählen. Für Aussenstehende eher überraschend ist, dass der Zuger CVP-Sitz wackelt. SVP-Regierungsrat Heinz Tännler könnte Amtsinhaber Peter Hegglin gefährlich werden.
Tännler ist denn auch der heisseste Trumpf der SVP, einen neuen Sitz zu gewinnen. In Schwyz hingegen könnte die grösste Partei ihren zweiten Ständerat an die FDP oder die CVP verlieren. Völlig offen ist für die SVP das Rennen im Aargau. Dort hat sich SP-Nationalrat Cédric Wermuth nämlich als ernstzunehmender Herausforderer etabliert.
Die SP ist derzeit mit zwölf Sitzen so stark wie noch nie im Ständerat. Die Sitze im Aargau und Baselland wackeln zwar. Letzterer dürfte aber in linker Hand bleiben. Wenn nicht SP-Mann Eric Nussbaumer reüssiert, stehen die Chancen von Maja Graf (Grüne) gut. Rot-Grün wird wohl auch in der nächsten Legislatur ähnlich stark sein wie heute.
Das Ökolager könnte durch die Zürcher Grünliberale Angelina Tiana Moser gestärkt werden, falls sich diese gegen den freisinnigen Ständerat Ruedi Noser durchsetzen kann. Ansonsten stehen die Zeichen auch bei der FDP auf Halten. Chancen auf einen Sitzgewinn können sich die Freisinnigen im Kanton Schwyz ausrechnen.
Die Chancen auf einen zusätzlichen Sitz in Genf sind seit der Affäre rund um den freisinnigen Staatsrat Pierre Maudet hingegen nicht mehr so gross wie auch schon. Schliesslich hat die BDP berechtigte Hoffnungen, dass die Berner Regierungsrätin Beatrice Simon ihren einzigen Sitz im Stöckli halten kann. (dk)