
Strassen aus Recycling-Baustoffen: «In der Deutschschweiz gehört der Aargau zu den Vorreitern»

So wird aus einem alten Belag der Rohstoff für neue Strassen
43 Meter über dem Boden wird der zerkleinerte alte Asphalt auf rund 120 Grad erhitzt. Die zähflüssige Masse aus Kies und Bitumen kommt weiter unten in den Mischer, wo sie mit frischem Kies und zusätzlicher Bitumen vermischt wird. Je nach Anteil des Recy-cling-Materials muss der zugemischte Kies mit Gasbrennern auf 180 bis 230 Grad vorgeheizt werden. Denn die Masse muss mit ungefähr 160 Grad auf den Lastwagen, damit sie 15 bis 20 Minuten später nicht mit weniger als 120 Grad in die Strassenbaumaschine kommt.
Seit zehn Jahren setzt die Biturit AG in Mülligen auf Baustoff-Recycling, hat die Anlage eigens dafür ausgestattet. Christoph Stalder, Geschäftsführer von Biturit, sagt: «Wir verarbeiten hier bis 30’000 Tonnen gebrauchtes Material. Über alle Strassenbeläge sind wir bei einem Recycling-Anteil von rund 35 Prozent.»
Künftig sollen es noch mehr werden, so die Strategie des Kantons. Stalder sagt: «Diese Anlage hier ist beschränkt. Aber wir machen uns Gedanken, die Kapazitäten zu steigern, damit wir die wertvollen Baustoffe vermehrt wiederverwenden können.» Material, das der Kanton braucht. Jährlich steckt er 200 Millionen Franken in den Bau und die Sanierung von Strassen. (sel)
Auf den ersten Blick fällt einem nur die ländliche Idylle auf. Die Limmat zur Linken, das Rebgut zur Rechten, das Schloss Bickgut geradeaus. Und ja, natürlich realisiert der geneigte Fahrer auch, dass er auf einer frisch sanierten Kantonsstrasse von Zürich Richtung Würenlos rollt. Was er aber kaum weiss: Er bewegt sich auf einem Untergrund mit Geschichte, einer Strasse, die zu einem grossen Teil schon einmal Strasse war, einer Strasse aus Recycling-Baustoffen. Ein «Leuchtturm-Projekt», wie Regierungsrat Stephan Attiger sagt.
Der sanierte und um einen Radweg erweiterte Strassenabschnitt ist zwar bloss 1500 Meter lang, aber erstaunlich sind andere Zahlen. Der Strassenkoffer wurde komplett aus recyceltem Material gefertigt, rund 26’000 Tonnen wurden verbaut. Da die Strasse durch abschüssiges Gelände führt, mussten des Weiteren auch Stützmauern gebaut werden, Leitungen wurden neu verlegt und mit Beton umgossen. 4000 Tonnen insgesamt, 95 Prozent sind recycelt. Und auch der Asphalt besteht zu 55 Prozent aus recyceltem Material (2550 von 4530 Tonnen).
80 Prozent der jährlichen Abfälle aus der Baubranche
«In der Deutschschweiz gehört der Aargau zu den Vorreitern», sagt Laurent Audergon, der Geschäftsführer des Branchenverbands ARV Baustoff-Recycling. Die Kantonsstrasse entlang der Limmat sei eine der ersten Strassen des Landes, die mit so viel aufbereitetem Baumaterial gebaut wurde. Weit mehr als die nationalen Normen vorsehen. Allerdings mit den gleich hohen Anforderungen, wie das bei ungebrauchten Baustoffen der Fall gewesen wäre, was zum Beispiel die Tragfähigkeit anbelangt oder die Frostbeständigkeit.
Die Resultate begeistern die involvierten Parteien. Markus Burgherr, der ausführende Bauingenieur, bilanziert: «Wir erreichten praktisch überall die gewünschte Qualität.» Einzige Einschränkung: Der recycelte Beton war der Salzbelastung im Winter nicht gewachsen, der er auf der Kantonsstrasse ausgesetzt wäre. Daher konnte er an exponierten Stellen nicht eingesetzt werden. Im Hochbau aber soll er uneingeschränkt gebraucht werden können.
Im Strassenbau ist der Einsatz von recycelten Materialien nicht nur nachhaltig, sondern bis zu einem gewissen Grad auch ökonomisch sinnvoll. «Es wäre heute technisch möglich, Strassen komplett aus recyceltem Material zu fertigen», sagt Urs Umbricht, Präsident der Vereinigung Aargauer Strassenbauunternehmen. Allerdings wären dann einerseits die Emissionen bei der Herstellung zu gross (siehe Box ganz unten) andererseits würde sich dies auch nicht mehr rechnen.
Warum zögern viele Kantone und Gemeinden beim Einsatz von Recycling-Material dennoch? Aufgrund «primitiver Ängste», vermutet Audergon. So sei der Kanton Zürich sehr zurückhaltend, weil vor 20 Jahren ein Projekt nicht funktioniert habe. «Noch heute nimmt man das als Misserfolg wahr», so Audergon.
Dabei ist das Potenzial gewaltig. «Rund 80 Prozent aller Abfälle kommen aus der Baubranche», sagt Audergon. Laut Schätzungen sind es 14 Millionen Tonnen jährlich. Um die knappen Ressourcen sinnvoller zu nutzen, ist man auf Vorreiter wie den Kanton Aargau angewiesen. «Ohne den Willen von Kantonsingenieur Rolf Meier wäre das nicht möglich gewesen», so Audergon. Und was sagt Meier selbst? «Der Kanton ist für 1200 Strassenkilometer verantwortlich, die Gemeinden für 5500. Die müssen wir motivieren und die anderen Kantone, die dem Baustoff-Recycling kritischer gesinnt sind. Wir jedenfalls sind von der Strategie überzeugt – wirtschaftlich, technisch und ökologisch.»