Der Stierenzüchter aus Langnau

Kennen Sie den Unterschied?

Kuh, Rind, Kalb, Stier oder Ochse?

Von der Geburt bis zum Alter von einem halben Jahr wird ein Jungtier Kalb genannt. In der Zeitdauer des sechsten bis zum 30. Monat gilt das Jungtier als Rind. Mit der ersten Kalbung wird das weibliche Rind zur Kuh. Das männliche Rind hingegen wird mit dem Erreichen der Geschlechtsreife Stier (oder «Muni») genannt. Ein kastrierter Stier ist indes ein Ochse.

Inmitten des Langnauer Altentals, in einsamer Abgeschiedenheit und von Wiesen umgeben, steht ein moderner Bauernhof. Ein grossgewachsener Berner Sennenhund spaziert über den Hofplatz und beobachtet das Geschehen. So weit, so unspektakulär: Nichts weist darauf hin, dass der landwirtschaftliche Betrieb in der Schweizer Rindviehzucht nicht wegzudenken ist.

Erst beim Betreten des Stalles entwickelt sich ein stutziges Gefühl. Denn der Zugang in das Gebäude erfolgt nicht über ein grosses Scheunentor, sondern über eine festverriegelte Türe. «Hier ist alles abgeschlossen. Nur wir Angestellten haben einen Schlüssel», sagt Hans Wigger, der den Hof seit bald 20 Jahren führt. Diese Sicherheitsmassnahme sei nötig. Denn «in unserem Freilaufstall beherbergen wir ausschliesslich Spitzensportler», witzelt der 56-Jährige. Damit meint er die aktuell 97 Jungstiere, deren genetisches Potenzial weit über dem Durchschnitt liegt. Zusammen mit zwei Stierenpflegern zieht Hans Wigger die Tiere auf und bereitet sie auf ihr künftiges Zuchtleben vor. Ein Zuchtleben im Dienste der Swissgenetics, einer in der Rindviehzucht tätigen Genossenschaft, die mit ihren jährlich weit über zwei Millionen produzierten Samendosen schweizweit die grösste Produzentin und Vermarkterin von Sperma für die künstliche Befruchtung von Rindern und Kühen ist.

Strategisch wichtiger Standort

In der Schweiz betreibt Swissgenetics fünf Standorte: Während der Geschäftssitz in Zollikofen BE und die Embryoproduktion in Ins BE beheimatet ist, befindet sich der Wartebetrieb im sankt-gallischen Bütschwil, die Samenproduktion und Stierhaltung im aargauischen Mülligen und die Quarantäne- und Aufzuchtstation im Wiggertaler Langnau bei Reiden. «Als erste Station eines jeden Jungstieres, der im Besitz der Genossenschaft ist und in der Rindviehzucht zum Einsatz kommen soll, ist der Standort Langnau von strategisch hoher Bedeutung», beschreibt Wigger die Wichtigkeit des von ihm geführten Betriebes. So werden sämtliche künftigen Zuchtstiere im Altental aufgezogen und durch die sogenannte Körung selektioniert: Im Alter von acht bis zehn Monaten beurteilt ein Experte eines Zuchtverbandes – bei Braunvieh beispielsweise der Verband Braunvieh Schweiz – den Stier auf sein Exterieur. Im Fokus steht die Entwicklung des Geschlechtsapparates, die Körperentwicklung und der Bewegungsapparat. Fällt die Beurteilung des Experten negativ aus und wird das Tier abgewiesen, bedeutet das sein Todesurteil: Der Schlachtauftrag wird unverzüglich erteilt. «Solche Szenarien gehen einem nahe», sagt der Betriebsleiter nachdenklich und merkt in einem etwas fröhlicheren Ton an, dass glücklicherweise mehr als zwei Drittel den Sprung nach Mülligen und somit in die Produktion schaffen.

Intensive Zeit

Bevor aber dieses wegweisende Urteil fällt, blüht den Jungstieren eine ereignisreiche Zeit im Altental: Gleich nach deren Ankunft auf dem Betrieb haben sie in einem speziellen und vom Freilaufstall getrennten Bereich eine bis zu 42 Tage andauernde Quarantäne zu absolvieren. «Mit dieser Massnahme schützen wir uns vor Seuchen und anderen ansteckenden Krankheiten.» Um einen möglichst hohen Schutz garantieren zu können, gilt während dieser Zeit ein eingeschränkter Personen- und Warenverkehr. So hat sich Hans Wigger beispielsweise bei jedem Verlassen des Stalles unter die Dusche zu stellen und umzuziehen. Weiter hat er sämtliche Futtermittel für die gesamte Dauer der Quarantäne vor deren Beginn einzulagern; Futter von ausserhalb des separaten Stalles darf nicht verfüttert werden.

Ist diese Schutzmassnahme abgeschlossen, übersiedelt der Betriebsleiter die Jungstiere in den Freilaufstall. Damit beginnt ihre Aufzuchtphase, die bis zu zehn Monate andauern kann und mit der Körung ihren Abschluss findet. «Diese Phase ist sowohl für den Stierenpfleger als auch für das Tier eine intensive Zeit.» So hat der Pfleger den Kontakt zum Stier mit einer gezielten Arbeitsweise aufzubauen; die Angewöhnung an das Halfter geschieht deshalb mit viel Feingefühl und über mehrere Wochen hinweg – immer wieder haben die Jungstiere das Halfter für wenige Minuten zu tragen. Nur so erhöhe sich die gegenseitige Akzeptanz, welche für die tägliche Arbeit unabdingbar sei. «Man stelle sich vor, die heranwachsenden Kraftpakete entwickeln einen Groll gegen uns Pfleger und brennen durch.»

Den Freilaufstall und die etwas anderen Spitzensportler wieder verlassend, schliesst Hans Wigger die Türe hinter sich ab und überprüft mit einem kräftigen Ruck, ob sie auch wirklich ins Schloss fiel. Auf dem Hofplatz spaziert noch immer der Berner Sennenhund und wacht mit seinem aufmerksamen Blick über den doch nicht so normalen landwirtschaftlichen Betrieb im Langnauer Altental, der wahrlich die «Elite der Elite» junger Stiere beherbergt.