
Gallati plant Impfkampagne für SVP-Wähler und kritisiert Zertifikat-Aussage des Wirte-Präsidenten als «unsportlich»
Zur Person
Herr Gallati, wie oft haben Sie das Covid-Zertifikat gebraucht in Ihren Ferien?
Jean-Pierre Gallati: Einmal. Bei der Einreise nach Spanien.
Halten Sie das Zertifikat für eine gute Sache?
Absolut. Für die Phase, bis wir wieder frei sind, ist das ein sinnvolles Instrument. Sein Zweck ist es, das Leben und Wirtschaften sowie Anlässe zu ermöglichen und Einschränkungen sowie Schliessungen zu vermeiden.
Soll man die Zertifikatspflicht ausweiten auf Restaurants, wie das etwa Italien und Frankreich tun?
Wenn die Pandemie andauern sollte, vielleicht ja. Dann müsste man die Tests aber auch kostenpflichtig machen.
Sie sind auf der Linie von Bundesrat Guy Parmelin. Alain Berset dagegen will die Tests gratis lassen.
Nehmen Sie den Taschenrechner hervor: Wenn allein eine Person etwa 30 Tests pro Jahr à 130 Franken braucht. Was Leute, die sich nicht impfen lassen wollen an Kosten verursachen, kann die öffentliche Hand auf lange Sicht nicht mehr zahlen, wenn die Pandemie anhält.
Das Covid-Zertifikat scheidet die Geister. Gegner halten es für diskriminierend.
Das ist eine falsche Auslegung. Wer keinen Führerausweis hat, darf auch nicht Auto fahren. Da sagt auch niemand, er sei in der Bewegungsfreiheit eingeschränkt oder diskriminiert.
Was sagen Sie zur Drohung von Bruno Lustenberger, Präsident von Gastro Aargau, das Covid-Zertifikat zu boykottieren?
Das ist eine unsportliche und undemokratische Einstellung. Ich glaube nicht, dass Bruno Lustenberger persönlich so denkt, aber hier hat er für einmal den Gastrosuisse-Präsident Casimir Platzer übertrumpft beim Markieren von Verbandsinteressen. Ich glaube im Übrigen nicht, dass Lustenbergers Aufruf ankommt. Die Wirte im Aargau wissen schon, dass sie vom Regierungsrat und Grossen Rat gut behandelt worden sind in der Pandemie. Ich glaube, sie würden eine Ausweitung der Zertifikatspflicht unterstützen, wenn eine solche käme.
Wirte fürchten einen erneuten Umsatzeinbruch bei Zertifikatspflicht.
Es gab auch Phasen, als die Restaurants offen waren, aber viele Gäste nicht kamen, aus Angst sich anzustecken. Es nützt den Wirten nichts, ob mit oder ohne Zertifikat, wenn wegen Corona die Leute fernbleiben.
In Ihren Ferien haben sich einige brisante Themen angestaut. Panne bei Quarantäneverfügungen, verunreinigtes Material bei Massentests, Arbeiteraufstand im Conti, Stagnation beim Impfen. Was ist Ihre dringendste Aufgabe?
Von all dem, was Sie aufzählen, ist nur ein Punkt ein Problem: die schweizweit tiefe Impfquote. Alles andere sind Mücken, die zu Elefanten aufgeblasen worden sind.
Dann reden wir übers Impfen. Sie haben sich zum Ziel gesetzt, bis August die Herdenimmunität zu erreichen im Aargau. Mit 52 Prozent Geimpften sind wir weit davon entfernt. Warum haben Sie Ihr Impfziel verfehlt?
Warten Sie noch den August ab. Es kommen jetzt einige aus den Ferien zurück, die nicht noch kurz vor ihren Ferien die erste Impfung machen wollten.
Wieso hat die Schweiz in Westeuropa mitunter die tiefste Impfquote?
Schauen Sie Länder wie Italien und Spanien, die zu Beginn der Pandemie stark betroffen waren. Das ist den Menschen eingefahren, dort ist die Impfwilligkeit jetzt höher. Dieses Schockerlebnis hatte die Schweiz nicht, zum Glück. Aber darum sehen viele bei uns die Dringlichkeit nicht so. Die Schweiz ist sonst nämlich vorbildlich beim Impfen.
Was machen Sie konkret, um die Impfquote im Aargau zu erhöhen?
Wir haben keinen Impfzwang. Was wir tun können ist aufklären und motivieren. Wir haben zwei Kampagnen laufen: Eine mit dem Igel-Sujet und dem Slogan «Was pikst, das schützt» und eine andere mit jungen Angestellten des Kantonsspitals Baden, welche falsche Behauptungen zum Impfen widerlegt.
Mit Verlaub: Das ist ja herzig, aber wen wollen Sie damit ansprechen?
Alle. Eine Kampagne muss einfach und eingängig sein.
Müsste man nicht zielgerichteter Leute angehen? Beziehungsweise: Weiss der Kanton überhaupt, welche Gruppen untergeimpft sind?
Ja, es gibt ja die Umfrage von Sotomo. Dort sieht man, wer sich weniger impft. Und wir planen nun eine entsprechende Kampagne.
Demnach ist bei SVP-Wählern die Impfquote am tiefsten.
… ja, neben den Grünen.
Haben Sie eine Erklärung dafür?
Ich glaube, dass hat damit zu tun, dass die Impfskeptiker es so empfinden, dass der Staat Druck ausübt beim Impfen. Und das mögen diese Leute nicht.
Weniger Druck würde helfen, meinen Sie?
Ja, drohen und Druck ausüben, bringt nichts. Deshalb vermitteln wir im Aargau nicht wie anderswo die Botschaft: «Du musst dich impfen, sonst kannst du nicht in die Ferien oder in die Disco.»
Sie planen nun eine gezielte Kampagne, sagen Sie. Was konkret?
Wir können natürlich nicht einfach SVP-Wählern einen Brief schreiben. Wir planen eine Inseratekampagne mit Vorbildern. Diese ist in Entstehung. Bald wird es konkreter.
Machen Sie selbst auch mit?
Nein, ich will mich nicht in den Vordergrund stellen.
Aber als Gesundheitsdirektor und SVP-Autorität könnten Sie «Ihre» Leute doch am ehesten überzeugen, sich impfen zu lassen.
Ich bin geimpft und sage immer wieder, auch hier, impfen sei sinnvoll. Aber das allein reicht offensichtlich nicht. Darum wollen wir die Kampagne ausdehnen. Wir geben nicht auf. Denn die Wirkung der Impfung ist eklatant und übersteigt die ursprünglichen in sie gesetzten Erwartungen.
Auch bei den Jungen gibt es noch Potenzial. Der Kanton hat angekündigt, in den Schulen ein Impfangebot zu machen. Kann sich ein 15- Jähriger ohne Unterschrift der Eltern impfen lassen?
Die Eltern werden einbezogen. Wir wollen nicht gegen den Willen der Eltern impfen. Die Umsetzung ist im Detail aber noch nicht geregelt.
Trotz vieler ungeimpfter Jugendlicher und Rückkehr aus den Ferien verzichten die Aargauer Schulen auf Maskenpflicht zum Schulstart. Ist das nicht fahrlässig?
Ein Alleingang macht keinen Sinn. Eine Woche vor den Ferien haben wir die Maskenpflicht an den oberen Schulen abgeschafft. Jetzt kurzfristig wieder einführen und dann kommt der Bundesrat und entscheidet wieder etwas anderes? Das brächte ein Hin und Her bzw. Verunsicherung. Der Regierungsrat will sich mit den anderen Kantonen abstimmen: Auch diese werden in den Schulen keine zusätzliche Maskenpflicht einführen.
Am Mittwoch berät der Bundesrat über Lockerungen oder sogar Verschärfungen. Was erwarten sie?
Er wird vorläufig kaum etwas ändern. Im Moment weiss niemand, in welche Richtung sich die Pandemie entwickelt.
Was ist Ihre Einschätzung?
Ich würde den Effekt der Sommerferien abwarten. Wir haben letztes Jahr die Erfahrung gemacht, dass viele Reiserückkehrer das Virus mitbrachten, aber die wenigsten hatten einen schweren Verlauf und es entstand erst im Herbst eine zweite Welle. Aber wenn das diesmal nicht passiert, kann man in die Normalisierungsphase übergehen. Der Kern ist die Belastung der Spitäler. Und da gibt es zurzeit keine Anzeichen einer Überbelastung.
Ist ein Kollaps in Spitälern wirklich noch möglich? Die Vulnerablen sind ja grösstenteils geimpft und Massnahmen-Kritiker monieren, nicht mal letztes Jahr ohne Impfung sei es zu einem Kollaps gekommen.
Die Spitäler waren im letzten Jahr phasenweise massiv überbelastet. In der ersten Welle gab es ein Operationsverbot und in der zweiten haben die Spitäler von sich aus auf Operationen verzichtet, weil die Covid-Patienten die Ressourcen auf sich zogen. Das Risiko, dass es wieder soweit kommt, ist jetzt unbestritten kleiner. Aber niemand kann unterschreiben, wie es Ende Jahr aussieht.
Das erinnert an Ihre einschneidendste Massnahme vor Weihnachten, als Sie Restaurants und Läden schlossen. Würden Sie das wieder tun?
Ja, wir mussten die Notbremse ziehen, unsere Spitäler waren am Anschlag. Der Kanton Solothurn hat wenige Tage später und der Bundesrat vier Wochen später für die ganze Schweiz nachgezogen.
Ich will ein Thema ansprechen, dass Sie anfangs als übertrieben eingestuft haben: die Massenentlassung beim Contact Tracing Center sorgte für harsche Kritik, es drohen Klagen. Haben Sie das unterschätzt?
Überhaupt nicht. Es war mir klar, dass da einige an die Medien gehen werden. Aber wie gesagt: Das ist aus einer Mücke einen Elefanten gemacht.
Überhaupt nicht. Es war mir klar, dass einzelne Mitarbeiter an die Medien gehen werden.
Aber wenn es dann so einen Protest auslöst, ist nicht alles optimal gelaufen.
Die Gewerkschaften haben nicht begriffen, worum es geht. Das Gesetz sieht den Begriff und das Verfahren der Massenentlassung erst seit 2014 vor. Damit hatte der Gesetzgeber aber ganz sicher nicht unseren Fall im Auge. Aber als Staat wollen wir uns vorbildlich verhalten und haben dieses gesetzlich vorgeschriebene Verfahren eingeleitet. Dennoch kann ich Leute, die im Stundenlohn für wenige Monate angestellt waren, doch nicht vergolden und besser behandeln als ein Angestellter, der beispielsweise nach 30 Jahren seine Stelle verliert.
Sogar der freisinnige Rechtsanwalt Herbert Scholl wirft Ihnen Hire&Fire-Methoden wie in Amerika vor.
Herr Scholl ist bevollmächtigter Vertreter einer betroffenen Angestellten. Als Anwalt vertritt er eine Partei und muss deshalb parteiisch sein.
Sie scheinen etwas enerviert über die Empörung.
Sie ist ungerechtfertigt. Ich habe eine finanzpolitische Verantwortung und kann nicht über hundert Personen in Reserve auf der Lohnliste lassen. Übrigens bauen auch die anderen Kantone ihre Kapazitäten ab.
Anstelle von Yvonne Hummel, die als Kantonsärztin gekündigt hat, ist nun Andreas Obrecht der neue starke Mann bei der Pandemiebekämpfung. Kantonsarzt kann er als Nicht-Mediziner nicht gut werden. Was wird aus ihm nach der Pandemie?
Dann wird auch er gehen müssen. Er weiss, wie unser Personal im Contact Tracing Center, dass er für eine zeitlich beschränkte Aufgabe angestellt ist.
Sie sind über anderthalb Jahre im Amt und stets mit der Pandemie beschäftigt. Freuen Sie sich auf den normalen Job als Gesundheitsdirektor oder liegt Ihnen der Krisenmodus?
Der Krisenmodus liegt mir schon. Trotzdem bin ich dankbar, wenn Corona einmal nicht mehr das dominierende Thema ist. Meine eigentliche Aufgabe ist unter anderem ja die gesundheitspolitische Gesamtplanung. Aber man weiss nie: Vielleicht kommt wie vor 100 Jahren nach der Spanischen Grippe gleich die nächste Krise.
Buchstäblich grosse Baustellen sind die Kantonspitäler, wo in Baden und Aarau Neubauten entstehen. Aber auch inhaltlich gibt es Herausforderungen. Was steht aus Kantonssicht als nächstes an?
Die Pandemie hat den Spitälern Ausfälle beschert und Leistungen abverlangt. Der Regierungsrat wird dem Parlament deshalb nächstens eine Finanzierungsvorlage von rund 100 Millionen Franken vorlegen, um das abzufedern.
Zudem sucht das KSA einen neuen CEO. Eine Herkulesaufgabe?
Eine schöne und eine anspruchsvolle Aufgabe. Es gibt auch andere grosse und komplexe Spitäler etwa in Zürich. Und unterschätzen Sie Baden nicht, das Spital ist etwa zwei Drittel so gross wie das KSA. Es ist machbar.
Was werden wir zuerst vermelden können: einen neuen Spitaldirektor oder das Ende der Pandemie?
Nach Fahrplan des Verwaltungsrates sollte das KSA bis nächsten Frühling einen neuen Chef haben. Und nach historischen Erfahrungen ist eine Pandemie nach etwa zweieinviertel Jahren vorbei. Also auch das etwa im Frühling 2022. Aber das ist jetzt sehr spekulativ.