Sind Schulbücher linkslastig? Die Angst vor Propaganda in Aargauer Klassenzimmern

«Linke Indoktrination an der Volksschule ist sofort zu stoppen!», forderte die SVP des Kantons Zürich Anfang Woche an einer Pressekonferenz. Anlass für derart markige Worte ist «Gesellschaften im Wandel», ein neues Geschichtslehrmittel, das an Volksschulen eingesetzt wird. Es werde darin «indirekt zum Klassenkampf aufgerufen», wurde gesagt, die SVP verlange darum konkretes Handeln von der Regierung. Gleichentags reichte sie zusammen mit der FDP und der CVP im Zürcher Kantonsrat mehrere Vorstösse dazu ein.

Den Stein ins Rollen gebracht hat die «Neue Zürcher Zeitung» mit einem Artikel am 31. August. Der Autor beschreibt, wie «Gesellschaften im Wandel» von politischen Parolen durchsetzt sei und zwar höchst einseitig. «Das antikapitalistische, klassenkämpferische Geraune zieht sich durch das gesamte Lehrmittel», schreibt die NZZ.

Das ist auch bis in den Aargau vorgedrungen. Am 4. September reichte die FDP-Fraktion des Aargauer Grossen Rats eine Interpellation betreffend die «politische Ausgewogenheit der Lehrmittel» ein. Gestützt auf dem NZZ-Artikel fragt die Fraktion, wie und ob der Kanton politische Neutralität in den von hiesigen Volksschulen verwendeten Lehrmitteln sicherstelle.
«Gesellschaften im Wandel» wird an Aargauer Volksschulen zurzeit nicht eingesetzt.

Es ist aber durchaus möglich, dass sich das ändert. Das kantonale Departement für Bildung, Kultur und Sport (BKS) führt es in seiner aktuellen Lehrmittelplanung im Hinblick auf den neuen Aargauer Lehrplan auf – zwar nicht unter den obligatorischen oder bereits beschlossenen Lehrmitteln, aber doch unter jenen, die noch geprüft werden sollen.

Unia ist prominent vertreten
«Gesellschaften im Wandel» wird in zwei Bänden gedruckt sowie in einer Online-Version vom Zürcher Lehrmittelverlag herausgegeben und richtet sich an Schülerinnen und Schüler der Sekundarstufe I. Themen sind etwa Demokratie, Rechte, Föderalismus oder Frieden. Die Online-Version ist multimedial, zu einzelnen Themen gibt es weiterführende Links oder auch kurze Videos.

Ein Unterkapitel heisst «Gleicher Lohn für Alle!». Frauen verdienten in der Schweiz im Durchschnitt noch immer 20 Prozent weniger als ihre Arbeitskollegen, wird hier vermittelt, die Gewerkschaft Unia habe 2015 mit einer Demonstration in Bern auf diesen Umstand aufmerksam gemacht. Illustriert wird das mit einem Video dieser Demonstration. Weiter ist «Fairness und Label» ein Thema. Eine Vertreterin einer Hilfsorganisation erzählt dort, wie Menschen in der Dritten Welt ausgebeutet würden, um andere «superreich» zu machen.

An anderer Stelle wiederum kommen Politikerinnen und Politiker von links bis rechts darüber zu Wort, was «Jugendliche beschäftigt». Oder unter «Parteien in der Schweiz» werden anhand von Grafiken und Videos die Positionierungen der Schweizer Parteien aufgezeigt.

FDP prangert Einseitigkeit an
FDP-Grossrat und Fraktionssprecher Titus Meier findet nicht das gesamte Werk «Gesellschaften im Wandel» schlecht. «Das Lehrmittel hat für den Unterricht unbestritten seine Vorteile», sagt der promovierte Historiker und Oberstufenlehrer. Gerade im politischen Bereich sei es aber klar zu wenig ausgewogen.

«Natürlich soll man Gewerkschaften thematisieren. Die Arbeitgeberseite aber ebenso. Das fehlt hier vollständig», sagt Titus Meier. Ausgeglichen wäre dieses Kapitel erst, wenn beispielsweise auch von einer Pressekonferenz des Arbeitgeberverbands ein Video bereitstünde. Auch dass man die 20 Prozent Lohnungleichheit zwischen Frauen und Männern als unumstössliche Tatsache hinstelle, sei unseriös. Schliesslich gebe es auch Studien, die besagen, dass dieser Unterschied deutlich tiefer sei. Gleich verhalte es sich mit dem Thema Globalisierung. «In ‹Gesellschaften im Wandel› ist nur davon die Rede, dass Globalisierung etwas Schlechtes ist. Dass sie auch Vorteile hat, wird nicht erwähnt.»

Unausgewogenheit werde dann problematisch, wenn man auch die andere Seite zeigen könnte, dies aber unterlässt. Genauso verhalte es sich bei diesem Lehrmittel, findet Meier.

Lehrmittelverlag verteidigt sich
Dass der Kanton «Gesellschaften im Wandel» jetzt also tatsächlich als mögliches Lehrmittel ins Auge fassen könnte, ist für ihn alarmierend. «Ausgewogenheit muss bei der Wahl eines Lehrmittels auch ein Kriterium sein. Wir müssen die Frage stellen, ob das so gehandhabt wird», sagt er.

Unterricht müsse schon nur deswegen möglichst neutral sein, damit Schülerinnen und Schüler ihre eigenen Schlussfolgerungen ziehen könnten. Dafür müssten ihnen aber auch unterschiedliche Sichtweisen vermittelt werden. «Wir erwarten, dass Jugendliche mit 18 Jahren ihre Meinungen vertreten. Also müssen wir ihnen auch zutrauen, sich diese selber zu bilden», findet Meier.

Beat Schaller, der Leiter des herausgebenden Zürcher Lehrmittelverlags, hat kein Verständnis für derlei Vorwürfe. Gegenüber dem «Tages-Anzeiger» sagte er am Dienstag, das Lehrmittel sei ausgewogen und befähige die Schüler zum eigenständigen Denken. Zudem stehe im dazugehörigen Handbuch für Lehrerinnen und Lehrer explizit, dass historische und politische Ereignisse aus verschiedenen Perspektiven dargestellt werden sollen.

Lehrer in der Pflicht
Der Unterricht an öffentlichen Schweizer Schulen ist gemäss Schulgesetz konfessionell und politisch neutral. «Es ist die Lehrperson, die den Unterricht gestaltet, nicht das Lehrmittel», gibt Elisabeth Abbassi, die Präsidentin des aargauischen Lehrerinnen- und Lehrerverbandes (alv), zu bedenken.

Jede Lehrerin und jeder Lehrer habe den klaren Auftrag, ausgewogen zu unterrichten. Sicherzustellen, dass diese Vorgabe eingehalten wird, ist die Aufgabe der Schulführung, in erster Linie der Schulleitung. «Auch Eltern würden sich schnell melden, wenn sie das Gefühl hätten, der Unterricht sei einseitig», sagt die Lehrerpräsidentin.

Mit den bestehenden Kontrollmechanismen schätze sie die Gefahr von Indoktrination an den öffentlichen Schulen als sehr gering ein. Seit 40 Jahren im Schulbereich tätig, sei ihr zumindest noch kein Fall begegnet, in dem man deswegen hätte eingreifen müssen.

Elisabeth Abbassi hat auch Vertrauen in die Kontrollorgane für die Lehrmittel. Jedes neue Lehrmittel wird vor der Einführung von der Lehrmittelkommission geprüft und seine Einführung im Kanton Aargau vom Erziehungsrat vorgeschlagen und vom Regierungsrat beschlossen. «Kein Lehrmittel, das nicht genau geprüft worden ist, kommt auf die Liste der Lehrmittel», sagt Abbassi.

Dennoch sieht sie auch die Lehrerinnen und Lehrer in der Pflicht, denn diese müssten auch bei zusätzlichem Material für den Unterricht eine Auswahl treffen. Dabei seien nicht nur religiöse und politische Inhalte kritisch zu begutachten, sondern auch, was im Bereich der Esoterik liege oder unter «Sponsoring», beispielsweise durch die Wirtschaft, fallen könnte. Aber auch hier: «Die Lehrerinnen und Lehrer kennen ihren Auftrag und sind sich ihrer Verantwortung durchaus bewusst.»

Kantonsvertreter schweigen
Noch steht die Antwort des Regierungsrats auf die FDP-Interpellation aus. Zu eingereichten Vorstössen nehmen vor deren offizieller Beantwortung grundsätzlich keine Kantons-Vertreter Stellung, heisst es auf Anfrage bei der BSK. Titus Meier mag nicht vorgreifen.

Ob und wie die FDP das Thema weiterverfolgt, müsse bei vorliegender Antwort der Regierung besprochen werden. Zudem stehe der Prozess ja noch ganz am Anfang, es könne noch einiges passieren. «Vielleicht überarbeitet der Lehrmittelverlag Zürich die Publikation ja sogar noch einmal.»