Geschichten, die der Sonntagabend so schreibt

Sonntagabend, 20 Uhr in der S-Bahn. Es ist jener Zeitpunkt in der Woche, an welchem gefühlt die Hälfte aller Fahrgäste im Zug Rekruten sind, die nach dem Wochenende wieder einrücken müssen. Ein weiterer Viertel machen die Freundinnen der Rekruten aus, welche ihre strammen Eidgenossen ein Stück weit auf ihrem Weg zurück in die Kaserne begleiten. Brav halten sie jenes Händchen, in welchem morgen schon wieder eine Waffe liegen wird. Sie schweigen. Denn von der Diskussion über irgendwelche Truppengattungen verstehen sie offensichtlich nur Bahnhof. Im Abteil neben mir erzählt eine Frau Mitte 20 ihrer besten Freundin von ihrer neusten Partie, welche sie vielleicht schon bald machen würde. Sie zeigt ihr auf dem Smartphone das Instagram-Profil ihres Angebeteten. Und dies trotz der Tatsache, dass ihr Akkustand bei läppischen drei Prozent liegt. Das muss wahre Liebe sein. Luca, hiesse er. Er arbeite für eine Zuger Immobilienfirma. Eigentlich hätte sie ja nicht schon wieder einen  «Tschingg» gewollt. Lieber einen «stinknormalen Schweizer». Wo die Liebe hinfällt. Oder eben nicht. Ein junger Mann steigt zu und setzt sich zu seinem «Bro» ins Abteil. Auf die Frage wie es denn mit Sonja laufe, entgegnet er: «Alter, unsere Beziehung ist Fatal Error 404, ich schwör.»
Was man in diesem Zug erzählt bekommt, sind die Geschichten, die der Sonntagabend so schreibt. Es ist die Ruhe zwischen dem rauschenden Wochenende und dem grossen Pendlersturm am Montagmorgen. Es sind verschiedene Welten, welche für eine kurze Zeit auf demselben Gleis unterwegs sind, bevor sie sich in der Dunkelheit der Nacht wieder trennen.