Tagtäglich Klassenzusammenkunft

«Papa hat heute Abend eine Klassenzusammenkunft», erklärte mir meine Mutter während meiner Kindheit öfters, wenn mein Vater abends nicht zu Hause war. Kürzlich bin ich zur Erkenntnis gekommen, dass ich wohl nie eine Klassenzusammenkunft im klassischen Sinne erleben werde. Und ich möchte ganz ehrlich sein: Ich will auch keine erleben! Denn wenn ich mich jeweils in die sozialen Medien einlogge, dann habe ich tagtäglich mehr Klassenzusammenkunft als mir lieb ist. Ich sehe, wie mein Banknachbar der Sekundarschule seine wirren Verschwörungstheorien bei Facebook teilt. Ich muss ertragen, dass die verwöhnte Streberin aus reichem Hause erneut Strandfotos ihrer gefühlt zwanzigsten Amerikareise online stellt. Und ein ehemaliger Klassenkamerad meldete sich kürzlich telefonisch bei mir und wollte mir eine Versicherung andrehen. Dabei versteht sich, dass er auf Provision arbeitet und es ihm trotz Nachfragen ziemlich egal war, wie es mir wirklich geht. Es ist ganz interessant, immer mal wieder über das heutige Leben meiner ehemaligen Mitschülerinnen und Mitschüler informiert zu werden. Aber möchte ich sie alle im Rahmen einer Klassenzusammenkunft wiedersehen? Nein! Es reicht aus, dass mir während meiner gesamten obligatorischen Schulzeit der Kontakt mit ihnen aufgezwungen wurde. Ich schätze es, mit einigen Schulfreunden den Kontakt auf persönlicher Ebene weiter zu pflegen. Und den Rest beobachte ich aus sicherer Distanz. Dank Facebook und Co. bleibe ich also auf dem Laufenden, ohne dass ich mich ganze Abende lang mit Menschen unterhalten muss, die mir bereits vor Jahren im Klassenzimmer auf den Geist gingen.

Waltsworte ist die regelmässige Kolumne von Tobias Walt, Redaktionsleiter bei Radio Inside