«Wenn den ganzen Tag ‹Schwanensee› im Fernsehen läuft, dann ist der Teufel los»

Leopoldine Gaigg reiste 1991 für einen Sprachkurs nach Moskau. Bild: zvg
Leopoldine Gaigg reiste 1991 für einen Sprachkurs nach Moskau. Bild: zvg

«Ich war schon fast überall auf dieser Welt», sagt Leopoldine Gaigg. «Jedenfalls auf jedem Kontinent.» Die 86-jährige Österreicherin, die seit 40 Jahren in Bottenwil lebt, hat viel erlebt: den Zweiten Weltkrieg mit dem Bombenkrieg gegen ihre Heimatstadt Wien sowie als 10-Jährige den Einmarsch der Amerikaner und Sowjets in ihrer Heimat (siehe ZT vom 8. Mai 2020) mit der darauffolgenden 10 Jahre dauernden Besetzung Österreichs durch Sowjets, Amerikaner, Briten und Franzosen. Egal was sie damals erlebt habe, Ressentiments gegen eine der Nationalitäten habe sie keine, sagt sie. «Ob Amerikaner, Russen, Engländer oder Franzosen, da ist nichts von früher zurückgeblieben.» Schliesslich könne keiner von heute was dafür, was früher passiert sei.

Weil Gaigg so auf der Welt herumgekommen ist, hat sie viel zu erzählen. Aber dieses eine Ereignis, das sich Ende August zum 30. Mal jährt, ist für sie etwas Besonderes: der Putschversuch konservativer Kräfte gegen den sowjetischen Staats- und Parteichef Michail Gorbatschow vom 19. bis 21. August 1991 (siehe Artikel unten). Zu dieser Zeit weilte Gaigg nämlich für einen dreiwöchigen Sprachkurs in Moskau.

Wie es dazu kam: «Ich hatte schon immer ein Interesse an Sprachen. Die Matur habe ich in Englisch und Latein gemacht, und Französisch als Freifach in der Schule genommen.» Später habe sie noch Italienisch und Spanisch gelernt. In den frühen 70er-­Jahren hat das Schweizer Fernsehen einen Russischkurs ausgestrahlt. Da die russische Sprache eine schwierig zu erlernende Sprache ist, habe die Fernsehredaktion angeregt, dass die Teilnehmer des Kurses Lerngruppen bilden sollten. «Und genau das taten wir», sagt Gaigg, die damals in Oberentfelden lebte. «Es waren viele beglückende Stunden, die wir beim gemeinsamen Studium des Russischen erlebten.»

Die Lerngruppe umfasste zeitweise bis zu sieben Personen: eine Ärztin, zwei Lehrerinnen, eine Bäuerin, zwei Hausfrauen und einen Kantonsschüler. Als die drei Lehrbücher durchgearbeitet waren, kam es im Juni 1975 zum Abschlussexamen mit Diplom – und der Frage: «Wie weiter?»

Zu viert engagierten sie einen Russischlehrer, Iwan Matuška. Der in der Tschechoslowakei geborene und mittlerweile verstorbene Matuška war während vielen Jahren auch Russischlehrer an der Kantonsschule Zofingen. Diese alle zwei Wochen stattfindenden Treffen endeten zu Beginn der 80er-Jahre, als Gaigg nach Bottenwil zog.

1991 erfuhr Gaigg, dass die Volkshochschule München einen dreiwöchigen Russischkurs in Moskau organisiert. Sie war begeistert und meldete sich sofort an. Als sie am 4. August nach Moskau reiste, dachte sie nicht im Entferntesten daran, Weltgeschichte aus nächster Nähe zu erleben. In den ersten Wochen habe auch nichts darauf hingedeutet, sagt sie, obwohl sich die ­Sowjetunion seit der Einführung von Gorbatschows Reformprogrammen «Glasnost» (Transparenz, Offenheit) und «Perestroika» (Umbau) im Umbruch befand.

Es war ein heisser August. «Trotzdem habe ich mir die Sohlen abgelaufen, weil ich möglichst viel sehen, erleben und nichts verpassen wollte», sagt Gaigg und lacht. «Man konnte damals ganz allein durch die Gegend ziehen; niemand hat mehr gefragt, wohin man in der Freizeit ging.» Also setzte sie sich kurzentschlossen in einen Vorortszug nach Peredelkino, um die Datscha und das Grab von Boris Pasternak, dem Autor des Romans «Doktor Schiwago», zu besuchen.

Stundenlang nur Kultursendungen im TV

«Eines Tages geschah etwas Merkwürdiges», sagt Gaigg. Im Fernsehen kamen nur noch Kultursendungen, zum Beispiel das Ballett «Schwanensee». Es war der 19. August 1991, der erste Tag des Putsches. Auf den Strassen waren bewaffnete Soldaten und Panzer zu sehen. Das Volk rottete sich zusammen, baute Barrikaden und marschierte durch die Strassen. Dabei skandierten die Menschen immer wieder: «Doloi KPSS!» Gaigg mischte sich unter die Demonstrierenden. Sie wollte schliesslich wissen, was da los war, sagt sie ganz nüchtern und lacht. «Ich wusste nicht, was ‹Doloi KPSS› heisst, also habe ich einen der Demonstrierenden gefragt.» Die Antwort: «Nieder mit der Kommunistischen Partei!»

Die Leiterin des Kurses habe dazu nur gesagt: «Immer, wenn bei uns den ganzen Tag im Fernsehen ‹Schwanensee› läuft, dann wissen wir: Jetzt ist wieder einmal der Teufel los.» Angst habe niemand verspürt, sagt Gaigg. Am Abend fuhr die Gruppe wie geplant mit dem Bus in den Süden Moskaus, um ein Violinkonzert mit Igor Oistrach zu besuchen. Bei der Rückfahrt war der ­direkte Weg jedoch durch eine Barrikade der Demonstranten versperrt, ebenso die Alternativroute. Blieb nur die U-Bahn, was aber problemlos geklappt habe.

Im Hotel angekommen telefonierte Gaigg mit ihrem Mann, der sie besorgt dazu aufforderte, nach Hause zu kommen. Doch sie sagte: «Ich komme ­sicher nicht heim; wir sind Touristen, was wollen die schon von uns?» – «Die haben das Dscherschinskij-Denkmal gestürzt und überall brennt es», habe ihr Mann gesagt, der im deutschen Fernsehen einen Bericht des Russlandkenners Gerd Ruge verfolgte. «Ich konnte die Sendung durch das Telefon mithören. Aber dort, wo wir wohnten, war es ruhig», sagt sie. Also blieb sie in Moskau wie auch der Rest der Gruppe.

Zu Recht, denn am dritten Tag war alles vorbei: Gorbatschow war frei und zurück in der Hauptstadt. Wie geplant, reiste Leopoldine Gaigg am 25. August nach Hause.

Gorbatschow kehrt am 23. August nach Moskau zurück (l.). Boris Jelzin entmachtet ihn in den folgenden Monaten schrittweise. Bilder: Konstantin Gushcha/Shutterstock
Gorbatschow kehrt am 23. August nach Moskau zurück (l.). Boris Jelzin entmachtet ihn in den folgenden Monaten schrittweise. Bilder: Konstantin Gushcha/Shutterstock

Die Konservativen beschleunigten das Ende der Sowjetunion

Der Putsch der Gruppe um Gennadi Janajew schwächte Michail Gorbatschow und verhalf Boris Jelzin an die Macht.

Am Montag, 19. August 1991, versuchte das «Staatskomitee für den Ausnahmezustand», die Macht in Moskau zu ergreifen. Es verkündete, dass der sowjetische Staats- und Parteichef Michail Gorbatschow überraschend erkrankt sei und seine Ämter nicht mehr ausüben könne. Gennadi Janajew, Vizepräsident der UdSSR und einer der Putschisten, wurde zum Interimspräsidenten erklärt. Gorbatschow befand sich zu dieser Zeit im Urlaub auf der Krim, wo er vom Nachmittag des 18. August an festgehalten und isoliert wurde, nachdem er seine Zustimmung zur Verhängung des Notstandes und die Übertragung seiner Vollmachten an Janajew verweigert hatte. In Moskau und Leningrad (heute: St. Petersburg) kam es zu Demonstrationen gegen die Putschisten, die Armee verweigerte den Putschisten die Gefolgschaft. Der Präsident der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik (RSFSR), Boris Jelzin, verurteilte den Umsturzversuch und forderte die Rückkehr Gorba­tschows. Während einer Demonstration in Moskau kletterte er auf einen Panzer und bat die Soldaten vor zehntausenden Demonstranten: «Werdet nicht zur blinden Waffe des verbrecherischen Willens von Abenteurern!»

Ein geplanter Angriff auf das Regierungsgebäude, das sogenannte Weisse Haus, durch die paramilitärische Spezialeinheit ALFA des Geheimdienstes KGB scheiterte, als Angehörige der Einheit einstimmig den Gehorsam verweigerten. Eine zu Jelzin übergelaufene Panzereinheit schützte das Weisse Haus.

Am 21. August bekannte sich die Mehrheit der sowjetischen Truppen offen zu den Demonstranten. Somit war der Putsch am dritten Tag gescheitert. Gorbatschow kehrte nach Moskau zurück und versprach, die Kommunistische Partei der Sowjetunion (KPdSU) von konservativen Kräften zu säubern. Doch Jelzin war ihm einen Schritt voraus: Per Dekret verbot er die KPdSU auf dem Gebiet der RSFSR. Gorbatschow trat als Generalsekretär der KPdSU zurück, blieb jedoch Präsident der Sowjetunion. Die Putschisten wurden ihrer Ämter enthoben und inhaftiert. Die meisten von ihnen wurden ab 1992/93 aus dem Gefängnis entlassen. Innenminister Boris Pugo beging Selbstmord.

Nach dem Putsch zerfiel die Sowjetunion endgültig. Nichtrussische bisherige Unionsrepubliken erklärten eine nach der anderen ihre Unabhängigkeit von der Sowjetunion. Der erstarkte ­Jelzin übernahm die Kontrolle der Medien und Schlüsselministerien. Schrittweise entmachtete er Gorbatschow, den bis zu seinem Rücktritt am 25. Dezember 1991 ranghöchsten Funktionsträger der Sowjetunion. Ende 1991 wurde deren Auflösung beschlossen. Die Russische Föderation übernahm unter Jelzins Führung die Rechtsnachfolge der Sowjetunion. (wikipedia/pmn)