
Geschichten, die das Leben schrieb: Vom Chüngel zur Bratwurst
Es war vor 100 Jahren nur eine kleine Meldung. Die Meldung vom Buben aus Schöftland, der sich während des Ersten Weltkriegs im Dezember 1917 an Bundespräsident Edmund Schulthess wandte mit der dringlichen Bitte, seinen Eltern in Deutschland doch trotz Exportverbot einen seiner gemästeten Chüngel als Weihnachtsgeschenk schicken zu dürfen – und die Genehmigung bekam, von Dr. Josef Käppeli, dem Chef der Abteilung für Landwirtschaft, mitsamt lobenden Worten. Eine kurze Meldung im «Aargauer Tagblatt» vom 24. Dezember 1917, per Zufall gefunden bei der Recherche zum Bombenabwurf über Menziken, 100 Jahre später erneut publiziert, weil die Geschichte in ihrer einfachen Art so ans Herz geht.
Und König Zufall regiert weiter: Mitte Januar klingelt das Telefon. Eine Dame aus dem Freiamt erklärt: «Der Mann, der dem Buben die Ausfuhrbewilligung für den Chüngel erteilt hat, war mein Grossvater.» So zieht sich der Faden weiter, vom Bombenabwurf über Menziken über den Chüngel von Schöftland nach Bünzen, wo die Dame seit 66 Jahren wohnt. Weiter geht der Reigen kleiner, feiner Geschichten aus fernen Jahrzehnten. Nicht aufsehenerregend. Geschichten, wie es sie viele gibt. Geschichten aber, die wichtig sind. Weil sie gegen das Vergessen helfen.
«Dann schweige ich lieber»
Vreni Abt-Käppeli (90) tippt mit dem Finger auf ein Foto in schwarz-weiss. Es zeigt ein Mädchen mit umgebundener Schürze, in der Hand eine Spritzkanne, in der anderen ein Bund Rüebli. Über der Aufnahme steht blass «Sommer 1941». «Das bin ich», sagt sie und lächelt. 14 Jahre alt. Mitten im Zweiten Weltkrieg, mitten in der Anbauschlacht, als die Bäcker nur hartes Brot verkaufen durften und es Grundnahrungsmittel wie Reis, Mehl, Zucker, Milch oder Fleisch nur gegen Coupons gab, damit alle genug bekamen.
Gemacht wurde die Aufnahme im Garten des Hauses in Muri bei Bern, wo sie aufwuchs. Im Erdgeschoss lebte sie mit den Eltern Paul und Elsy und den beiden jüngeren Geschwistern, im Obergeschoss wohnten die Grosseltern Josef und Marie Käppeli. Der Mann also, der dem Buben aus Schöftland die Ausfuhrbewilligung für den geschlachteten Weihnachts-Chüngel erteilte. Und der Mann, der in beiden Weltkriegen dafür sorgte, dass die Schweizer nicht verhungerten. Josef Käppeli war Leiter des Kriegsernährungsamts und damit verantwortlich für Lebensmittelrationierung und den «Plan Wahlen», die Anbauschlacht. Begriffe aus Kriegszeiten, Begriffe, die einst jedes Kind kannte, heute aber langsam verblassen. Nicht aber bei Vreni Abt. Trotz ihrer bald 91 Jahre ist ihr Verstand glasklar, ihre Erinnerungen gestochen scharf. «Und wenn ich mir bei etwas nicht mehr sicher bin, schweige ich lieber», sagt sie.
Wie der Vater im Morgengrauen noch vor dem Gang ins Büro – auch er, der Tierarzt, arbeitete im Bundeshaus, als Vizedirektor des Eidgenössischen Veterinäramtes und Leiter der Sektion Fleisch und Schlachtvieh im Kriegsernährungsamt – im Garten arbeitete, das vergisst Vreni Abt bestimmt nicht. Gerste, Mohn und Zuckerrüben wuchsen hier. Die Zuckerrüben trugen die Kinder in die Produktionshallen der Firma Haco in Gümligen, die Würzsaucen herstellte. Da wurde aus den Zuckerrüben Melasse gekocht, die zum Süssen ins Birchermüesli oder in den Kakao kam. Der Zucker wurde zum Konfitürekochen gespart. «Obwohl die Maschinen gereinigt waren, schmeckte die Zuckermelasse immer ein wenig nach salziger Würzsauce», erinnert sich Vreni Abt. Das habe sie aber nicht gestört. «Das war allemal besser, als auf Muetis Konfi zu verzichten.»
Dem Bundesrat Suppe serviert
Damit die Kinder lernten, ihr Brot einzuteilen, bekam jedes ein Stoffsäckli, gefüllt mit seinem Anteil. Auch das Ankemödeli wurde in Portionen geschnitten. «So lernten wir rasch, nicht alles am Morgen zu essen.» Fleisch gab es höchst selten und wenn, dann nur eine Gabel voll; die Familie ass lieber Käse und tauschte die Fleischcoupons gegen Coupons für Milchprodukte. Schliesslich waren Vreni und ihre Geschwister so genügsam, dass sie während der Ferien in einem Heim sogar eine servierte Bratwurst verschmähten. «Jedem von uns wurde eine Bratwurst vorgesetzt», sagt sie und lacht. «Und anstatt sie einfach zu essen und es zu geniessen, habe ich gesagt, dass wir keine ganze Wurst haben dürfen. So war uns das Sparen in Fleisch und Blut übergegangen.»
Daheim am Esstisch wurde nicht offen über den Krieg gesprochen. «Wir Kinder durften die Nachrichten nicht hören, auch Zeitungen lagen nie herum», sagt Vreni Abt. Trotzdem habe sie wohl mehr gewusst als andere Kinder, aufgeschnappt bei Gesprächen unter den Erwachsenen. Beim Servieren der Suppe beispielsweise, wenn Bundesrat Schulthess oder Friedrich Traugott Wahlen, Chef der Anbauschlacht und späterer Bundesrat, zu Gast beim Grossvater waren und von Vrenis Mutter bewirtet wurden.
Der Krieg habe die Menschen erfinderisch gemacht. «Auch wenn es wenig gab, so hat unser Mueti doch immer das Beste daraus gemacht.» Kirschenauflauf mit in Milch eingeweichtem Brot, Reis-Spinatauflauf oder geröstetes Brot, belegt mit Ei und Tomaten. «Herrlich», schwärmt Vreni Abt. Und am Geburtstag habe es ihr Lieblingsessen gegeben, Spinat mit Spiegeleiern oder Cipollata, dazu Härdöpfelstock mit Brösmeli-Schweizi.
Damit auch die Stadtkinder lernten, im Garten zu arbeiten, veranstaltete die Samenhandlung Vatter jeweils Gartenbauwettbewerbe für Schulkinder. Zwei Mal habe sie mitgemacht, erinnert sich Vreni Abt. Beim ersten Mal wurde sie Fünfte, beim zweiten Mal Erste. Sie hatte problemlos mit verbundenen Augen die zwölf Gewürzkräuter erkannt und die meisten Bohnen von allen gezüchtet – mehr noch als die Vatter-Gärtner selbst. «Kein Wunder», sagt sie und lacht, «ich habe ja immer gegärtnert.» Die Gärtner hätten sie sogar nach ihrem Geheimnis gefragt. «Beim Säen eine dünne Schicht Komposterde unter die Bohne, und eine drüber. So, wie es Vati immer gemacht hat.» Der Band mit den griechischen Heldensagen, den sie mit den Bohnen gewonnen hat, steht auch über 70 Jahre danach noch im Bücherregal.
Nicht im Altpapier gelandet
Der Krieg hat Vreni Abt geprägt, das Sorgetragen zu allem, was man in den Händen hält. Und doch sind die Erinnerungen in all den Jahren in den Hintergrund gerückt. «Als ich dann den Artikel über den Schöftler Buben gelesen habe, ist alles wieder hochgekommen.» Nicht nur die Erinnerungen an die Kriegsjahre, sondern auch an Grossvater Josef Käppeli. «Ein so heiterer, lieber Mensch.» Und stolz sei sie gewesen, einen so wichtigen Mann zum Grossvater und Götti zu haben. «Trotz seines hohen Amtes ist er sich selber treu geblieben, er blieb der Bauernbub aus dem Freiamt.» Deshalb wundere es sie auch nicht, dass er dem Buben aus Schöftland Antwort gegeben hat. «Er hat Kinder immer ernst genommen. Für ihn war es bestimmt eine Selbstverständlichkeit, dass auch dieser Bub eine Antwort verdient hat.» Man stelle sich das heute vor, sagt Vreni Abt. «Heute würde ein solches Brieflein wohl im Altpapier landen.»
Wer weiss, wo diese Geschichte landen wird. Vielleicht auch nur im Altpapier. Vielleicht aber geht sie weiter.
Wer weiss.