
Aktueller Bullshit, philosophisch betrachtet
Chefredaktor Philippe Pfister über Wahrheit, Humbug und Donald Trump.
Im Jahr 2005 publizierte der US-Philosoph Harry G. Frankfurt ein dünnes, dafür umso durchschlagenderes Büchlein, das sich erst in seinem Heimatland und später weltweit sensationell verkaufte. Es trägt den Titel «Bullshit», was sich vielleicht treffend mit dem deutschen Wort Humbug übersetzen lässt.
Bullshit sei eine Technik, «die Wahrheit zu verbergen», sagte Frankfurt damals in einem Interview mit der «Zeit». Jemandem, der im System des Bullshits denke und lebe, komme irgendwann das Gefühl dafür abhanden, dass er womöglich auch mal die Wahrheit sagen könnte. Bullshit sei so gesehen schlimmer als die Lüge – «weil dabei die Vorstellung von Wahrheit ganz verschwindet».
Frankfurts Buch ist eine gute Folie, um zu verstehen, wie der mächtigste Mann der Welt tickt. Donald Trump der ständigen Lüge zu bezichtigen, ist demnach der falsche Ansatz. Trump ist in Frankfurts Analyse vielmehr eine Art virtuoser Bullshit-Künstler.
Nehmen wir als Beispiel die drei Tweets Trumps, die in den letzten Wochen für besonders viel Aufregung sorgten: Barack Obama habe während des Wahlkampfs seine Telefone anzapfen lassen, unterstellte Trump seinem Vorgänger, um ihn gleich in die Nähe vom aus dem Amt gejagten Richard Nixon zu stellen.
Inzwischen ist klar, dass es für diesen Vorwurf nicht den geringsten Beweis gibt – die Tweets waren offensichtlich Humbug. Hat Trump also absichtlich gelogen? Eher nicht, denn lügen hiesse ja, die Wahrheit zu kennen. Für die hat er offenbar sein Gefühl verloren, denn zum bestehenden Humbug setzte er neuen in die Welt. Er habe das Wort «anzapfen» schliesslich in Anführungszeichen verwendet (was nebenbei gesagt nur teilweise stimmt), weil dieses Wort eine gute Beschreibung sei – gemeint habe er Überwachung im weiteren Sinn. Was er damit meint, bleibt unklar. Der Vorwurf des Abhörens scheint irgendwie abgeschwächt, bleibt aber im Raum. Was ist wahr, was falsch? Niemand weiss das so genau, am wenigsten wohl Trump selbst. Frankfurt würde sagen: Genau das ist nicht eine typische Lüge – das ist Bullshit.
Ich will Trump nicht bashen – davon hatten wir in den letzten Wochen genug. Er hat den Bullshit im Sinne Frankfurts ja auch nicht erfunden – diesen habe es schon immer und überall gegeben, sagt der inzwischen 88-jährige amerikanische Denker. Mich beschäftigt die Frage, wie die Menschen auf so viel Humbug auf höchster Ebene langfristig reagieren. Die Leute in den USA seien hungrig nach der Wahrheit, weil sie geradezu «unter einer Lawine von Bullshit ersticken, meinte Frankfurt im erwähnten Interview vor rund zehn Jahren. Hat sich der Philosoph in diesem Punkt geirrt? Der Bullshit im politischen Betrieb ist seit dem Erscheinen von Frankfurts Bestseller sicher nicht weniger geworden – nicht nur in den USA. Allerdings ist Frankfurt überzeugt, dass die allermeisten Menschen sehr wohl am Kompass Wahrheit festhalten wollen, alles andere mache sie nur unglücklich.
Ich bin gespannt, ob Frankfurt mit diesem Gedanken recht behält. Wenn ja, könnte Trump mit einer zweifelhaften Leistung in die Geschichtsbücher eingehen: Als Präsident, der seinen Landsleuten durch eine Überdosis Bullshit eine Lektion in Sachen Wahrheit erteilte.
Philippe Pfister weilt zurzeit in Berkeley, Kalifornien, wo er eine Weiterbildung absolviert.