
Herbst ohne Einschränkungen? Nur, wenn sich mehr Alte impfen lassen
Die Delta-Variante verbreitet sich rasend schnell, auch in der Schweiz. Die Zahl der Neuinfektionen steigt: Übers Wochenende infizierten sich 822 Personen in der Schweiz. Am Wochenende davor waren es «nur» 449 Neuinfektionen. Das ist zum zweiten Mal in einer Woche eine Steigerung um 80 Prozent. Grund dafür ist die ansteckende Delta-Mutation des Coronavirus, die bei rund 70 Prozent aller neuen Infektionen nachgewiesen wird.
Noch bleiben die Hospitalisationen und Todesfälle tief. Doch wir sind «nicht aus der Gefahrenzone», wie Martin Ackermann, Präsident der Nationalen Covid-19-Taskforce vor einer Woche bereits erklärte. Grund dafür ist der stagnierende Impffortschritt – und die sich rasch ausbreitende Delta-Variante. Ackermann:
«Mit der nur teilweise geimpften Bevölkerung könnten die Fallzahlen wieder rasch ansteigen. Wir sehen das in Grossbritannien, wo sich die Zahl der Ansteckungen alle zehn Tage verdoppelt.»

Martin Ackermann, Präsident der Covid-19-Taskforce, warnt vor einer neuen Überlastung des Gesundheitswesens.
Der Vergleich mit Grossbritannien zeigt aber auch noch etwas ganz anderes. Zwar verzeichnete Grossbritannien zuletzt so viele Neuansteckungen pro Tag wie im letzten November, die Hospitalisationen sind aber sechs Mal tiefer und die Zahl der Todesfälle sogar rund 20 Mal tiefer. Grund dafür sind die fast vollständig geimpften Risikogruppen. In den Altersklassen ab 70 Jahren sind in Grossbritannien rund 98 Prozent vollständig geimpft, nur gerade 2 Prozent der Menschen über 70 haben keinen vollständigen Impfschutz. Und: Auch bei den über 50-Jährigen sind rund 90 Prozent der Menschen zwei Mal geimpft.
Für Martin Ackermann ist darum klar:
«Die Impfabdeckung bei älteren Menschen bestimmt die Anzahl Hospitalisationen und Todesfälle.»
Für die Schweiz sind das keine guten News. Zwar sind immerhin über 80 Prozent der Altersklasse über 70 Jahren zwei Mal geimpft. Doch bei 1,2 Millionen Menschen in diesem Alter bedeutet das eben auch, dass schätzungsweise 200’000 Personen noch keine oder nicht ausreichend Antikörper gegen das Virus entwickelt hat – und damit nicht geschützt sind. Dass 20 Prozent der Menschen keinen vollständigen Impfschutz haben, ist laut Taskforce ein Problem – auch wenn sich nicht zwangsläufig alle Menschen anstecken. Doch die Fallzahlen steigen rasant, und damit steigt auch die Gefahr von Ansteckungen in dieser Altersgruppe.
Inwiefern neue Massnahmen zum Schutz vor Ansteckungen nötig sind, hängt laut Ackermann direkt vom Impffortschritt bei den Alten ab:
«Die konkreten Auswirkungen auf das Gesundheitssystem bei einem möglichen Neuanstieg hängen direkt davon ab, wie viele besonders gefährdete Menschen geimpft sind.»
Anders formuliert: Wenn sich nicht mehr über 70-Jährige impfen lassen, könnte dies die Spitäler wieder an den Rand der Kapazitäten bringen, neue Massnahmen zum Schutz vor Ansteckungen würden wieder aktuell.
Wenn es der Schweiz gelingt, die Impfabdeckung bei den über 70-Jährigen beispielsweise von 80 auf 90 Prozent zu erhöhen, dann halbiert sich die Zahl der Nichtimmunisierten von 200’000 auf 100’000 Personen. Das heisst wiederum, dass es auch nur halb so viele Hospitalisationen und Todesfälle geben wird. Eine Impfabdeckung wie in Grossbritannien würde das Risiko von Hospitalisationen und Todesfällen um den Faktor zehn verringern.
Die grosse Herausforderung für die kommenden Wochen wird also sein, Menschen über 70 zum Impfen zu bewegen. Martin Ackermann mahnt mit eindringlichen Worten: «Wir sind leider noch nicht ganz aus der Gefahrenzone.» Der richtige Moment für eine Impfung sei jetzt. «Wir sollten nicht warten, bis die Zahlen wie in Grossbritannien wieder ansteigen.» Wer weder neue Einschränkungen noch viele Krankheits- und Todesfälle in Kauf nehmen möchte, soll sich impfen und andere dazu ermutigen, dasselbe zu tun.
Impfschutz auch der jüngeren Generationen entscheidend
Die Situation in den kommenden Monaten wird entscheidend davon abhängen, wie gross der Anteil der Menschen in der Schweiz ist, die keinen oder keinen genügenden Immunität vor dem Virus hat. Dazu gehören nicht nur die über 70-Jährigen. Die Altersklasse zwischen 50 und 70 Jahren belegte während der Pandemie rund einen Drittel der Spitalbetten. Auch bei ihnen hat der Impffortschritt abgenommen.

Christoph Berger, Präsident der Impfkommission, empfiehlt auch den Jungen, sich zu impfen.
Und schliesslich ist auch die Impfabdeckung der Jungen wichtig. Nicht nur, um das Virus einzugrenzen und somit Neuansteckungen zu verhindern. Christoph Berger, Präsident der Eidgenössischen Impfkommission warnte gegenüber dieser Zeitung, dass es erstens auch in der jungen Altersgruppe schwere Fälle gebe, wenn auch wenige. «Zweitens drohen bei einer Infektion Langzeitfolgen, wie Long-Covid oder Konzentrationsstörungen, die noch genauer untersucht werden.» Gemäss Berger könnten in der jungen Generation etwa 10 Prozent betroffen sein. Deshalb seine Empfehlung: «Jeder impft sich also zu seinem eigenen Schutz.»