Zu Besuch bei den Appenzeller Impfmuffeln

An kaum einem anderen Ort in der Schweiz gibt es so viele Impfmuffel wie im Appenzellerland. Während im Kanton Basel-Stadt bereits 57 Prozent der Bevölkerung mindestens eine Impfdosis erhalten haben, sind es in Appenzell Ausserrhoden erst 46 Prozent. In Innerrhoden gar 42 Prozent. Das stellt den Kanton vor grosse Herausforderungen.

Im Hauptort Appenzell führt vom Landsgemeindeplatz aus die Hauptgasse durch den von Touristinnen gerne besuchten Traditionsort. Inmitten der pittoresken Fassadenlandschaft sitzt Ursula Fässler hinter den Plexiglasscheiben einer Kiosk-Filiale. Sie sei geimpft, sagt sie, aus Solidarität mit den Kunden. Und damit sie wieder reisen könne. Im August geht’s nach Österreich. Ihr Sohn hingegen lehne die Impfung ab. «Wegen der Familienplanung», sagt Fässler und zieht die Augenbrauen bedeutungsschwanger nach oben.

Ursula Fässler, geimpft aus Solidarität.

Ursula Fässler, geimpft aus Solidarität.

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Ähnliches erzählt der 29-jährige Marc Saxer, der in St.Gallen wohnt und in Appenzell arbeitet. Er rauscht gerade aus dem Coop, seine Mittagspause ist um und er muss zurück ins Büro. Kurz angebunden sagt er, in seinem Umfeld sei er fast der Einzige, der geimpft sei. «Gerüchte gehen um, die Impfung mache unfruchtbar.»

Es ist eine von vielen Fehlinformationen zur Covid-19-Impfung, die von offizieller Seite schon oft widerlegt, dennoch von vielen geglaubt und weiterverbreitet wird. «Rund um das Thema Impfen gibt es unglaublich viel Irrationalität», sagt Markus Schmidli. Er ist der stellvertretende Kantonsarzt von Appenzell Innerrhoden und Leiter des hiesigen Impfprogramms.

Im Appenzeller Testzentrum läuft nicht mehr viel.

Im Appenzeller Testzentrum läuft nicht mehr viel.

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Noch vor wenigen Monaten sei man ein Vorzeigekanton gewesen, was das Impfen anbelangt. «Als der Impfstoff endlich da war, war es eine Sensation. Schon im Dezember konnten wir mit dem Impfen beginnen.» Wie überall seien Hochbetagte und andere besonders gefährdete Personen zuerst an die Reihe gekommen. Eine mobile Equipe habe verimpft, was sie konnte. Schmidli: «Was an einem Tag an Impfungen ankam, wurde am nächsten Tag in Appenzeller Arme gespritzt.»

Die Warteliste sei lang gewesen, habe zeitweise bis zu 700 Personen umfasst, «was für unseren kleinen Kanton viel ist», wie der Arzt betont. Richtig losgegangen sei es im April, als endlich genügend Impfstoff vorhanden war. Pro Monat konnte der Kanton mit seinen 16‘000 Einwohnerinnen und Einwohnern rund 3000 Personen impfen. «Ab Mitte Juni war dann die Warteliste leer. Unsere zuvor aufgebauten Strukturen waren nicht mehr ausgelastet. Der Boom war vorbei.» Derzeit kämen noch rund 100 Personen pro Woche, um sich impfen zu lassen. Weil es so wenig sind, versucht Schmidli die Termine zu bündeln. So kommt er auf durchschnittlich einen Tag pro Woche, an denen das Impfzentrum offen ist. «Wir haben das ursprüngliche Angebot auf einen Fünftel heruntergefahren», sagt Schmidli.

Markus Schmidli, stellvertretender Kantonsarzt von Appenzell Innerrhoden.

Markus Schmidli, stellvertretender Kantonsarzt von Appenzell Innerrhoden.

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Er klingt hörbar resigniert. Die momentane Situation besorge ihn sehr. Mit einem Anflug an Fassungslosigkeit in der Stimme sagt er: «In unserem Kanton sind 30 Prozent der über 65-Jährigen nach wie vor nicht geimpft. Das ist eine medizinische Katastrophe.» Inzwischen wisse man, dass das Virus nicht auszurotten sei und so oder so in der Bevölkerung bleibe. Schmidli wird deutlich: «Das bedeutet, dass es nur zwei Möglichkeiten gibt: Entweder man impft sich oder man steckt sich mit Sars-CoV-2 an und riskiert, krank zu werden.»

Eine Tatsache, die Ilaria* und Jenny* nicht zu kümmern scheint. Unweit der Appenzeller Hauptgasse sitzen die zwei 17-Jährigen auf einer Parkbank und stochern in einer Dönerbox rum. Jenny erzählt, sie hätte vor zwei Tagen geimpft werden sollen, doch im letzten Moment habe sie den Termin abgesagt. «Ich bekam Angst», sagt sie. Weil alles noch so unsicher sei mit dieser mRNA-Impfung, zu wenig gut erforscht. Ausserdem kenne sie Leute, die schlimme Nebenwirkungen hatten. Ihrer Mutter zum Beispiel sei es nach der Impfung gar nicht gut gegangen.

Nickend pflichtet Ilaria ihrer Freundin bei und ergänzt: «Das BAG übertreibt. Corona ist nicht schlimmer als eine normale Grippe.» Zwar gebe es gewisse Vorteile mit einer Impfung, man könne wieder an Festivals und so. Momentan wolle sie es trotzdem nicht machen. Jenny, die in einer Drogerie arbeitet, sagt: «Auch bei uns im Geschäft ist niemand geimpft. Mein Chef ist voll der Corona-Gegner. Masken ziehen wir nur an, wenn wir vorne bei den Kunden sind. Hinten ziehen wir sie alle aus.»

Das Projekt Covid Norms der Universität Zürich untersucht das Präventionsverhalten der Schweizer Bevölkerung regelmässig. Dabei schauten sich die Wissenschaftler auch an, was die häufigsten Gründe sind, sich nicht impfen zu lassen. Angst vor Nebenwirkungen und Sicherheits-Bedenken sind dabei die am meist genannten. Im Vergleich zu vor einem Monat lassen sich jetzt weniger Menschen impfen. Während in der Schweiz im Juni noch 91‘000 Impfdosen pro Tag verabreicht wurden, sind es inzwischen 63‘000.

Die Zahl der Geimpften beginnt langsam zu stagnieren. Und das obwohl erst die Hälfte der Schweizerinnen und Schweizer mindestens eine Impfdosis erhalten haben. Expertinnen warnen, das reiche nicht aus, um der Pandemie endgültig den Riegel vorzuschieben. Der stellvertretende Kantonsarzt Schmidli befürchtet, dass nach den Sommerferien die Delta-Variante die dominierende Virus-Art in der Schweiz sein werde und sich dann viele ungeimpfte Personen ansteckten.

Einsames Schild in einsamer Landschaft weist den Weg zum Impfzentrum.

Einsames Schild in einsamer Landschaft weist den Weg zum Impfzentrum.

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«Doch ob wir das verhindern können?» Schmidli seufzt und schüttelt nachdenklich den Kopf. Auf der einen Seite sei es eine soziale Verpflichtung, auch die Impfskeptikerinnen und -skeptiker zu schützen, auf der anderen Seite könne man die Leute nicht zu ihrem Glück zwingen. Woche für Woche diskutiere der kantonale Corona-Krisenstab diese Fragen: «Haben wir die Leute genug aufgeklärt? Ist der Zugang zur Impfung genug niederschwellig? Was können wir noch tun?» Im Juni habe der Kanton eine Werbekampagne lanciert, in der bekannte Innerrhoder für eine Impfung weibeln. Doch der Effekt sei entmutigend klein, so dass man beschlossen habe, die Werbung auslaufen zu lassen.

Schmidli deutet auf seine linke Handfläche: «Auf der einen Seite haben wir das Coronavirus, das bei älteren Menschen zu schweren Verläufen führen kann. Die Mortalität ist drei Mal höher als bei einer Grippe. Viele Menschen haben nach einer Erkrankung bleibende Schäden. Das alles sind Tatsachen.» Und auf der anderen Seite, sagt Schmidli und deutet auf die rechte Handfläche, habe man die Impfungen. Die wirklich gut seien. Die wirken. Das habe man sogar im kleinen Kanton Appenzell Innerrhoden schnell gespürt. Doch mehr tun als das immer und immer wieder zu wiederholen, könne er nicht.

Schmidlis Fazit ist darum ein bitterehrlich unangenehmes: «Irgendwann werden wir sagen müssen: Wer die Gelegenheit hatte, sich zu impfen, diese aber nicht wahrnahm. Für den können wir nichts mehr tun.»

*Namen von der Redaktion geändert