
Neue Studie: Psychische und körperliche Gewalt an Schweizer Schulen ist Alltag
Jedes fünfte Kind wird hierzulande wegen seines Aussehens ausgegrenzt. Das offenbart eine neue Studie, die das Kinderhilfswerk Unicef Schweiz und Liechtenstein zusammen mit dem Institut für Soziale Arbeit und Räume der Ostschweizer Fachhochschule heute publik macht.
Grundlage der «Kinderrechte-Studie Schweiz 2021» bildete eine Online-Umfrage, an der zwischen November 2019 und Juni 2020 insgesamt 1715 Kinder und Jugendliche aus allen Sprachregionen der Schweiz und Liechtenstein teilnahmen. Thematisiert wurden die Bereiche Recht auf Förderung und Wohlbefinden, Recht auf Mitsprache und Beteiligung sowie das Recht auf Schutz und gewaltfreies Aufwachsen.
Nahezu alle befragten Kinder und Jugendlichen in der Schweiz sind laut Studie in irgendeiner Form von Strafe und/oder Gewalt betroffen. Die Schule ist dabei in Punkto psychischer und physischer Gewalt der gefährlichste Ort: 32 Prozent erfahren körperliche Gewalt, die von Mitschülerinnen und -schülern ausgeht, ganze 43 Prozent, also fast die Hälfte der Befragten, erfährt psychische Gewalt, die von Gleichaltrigen ausgeht.

Und 41 Prozent der Kinder und Jugendlichen sind von Diskriminierung in irgendeiner Form betroffen – sei das aufgrund von Herkunft, Geschlecht oder Aussehen. Das Aussehen ist dabei mit 21,4 Prozent der höchste angegebene Wert.
«Es besteht dringender Handlungsbedarf»
«Das hat sogar uns überrascht», sagt Co-Autorin der Studie, Mandy Falkenreck. Das Thema Diskriminierung und Mobbing sei augenscheinlich, sagt sie. «Es besteht dringender Handlungsbedarf.» Diskriminierung sei in der Schweiz ein gesamtgesellschaftliches Problem – und müsse auf allen Ebenen angegangen werden. «Dass Menschen ausgegrenzt werden, ist nichts Neues», sagt sie. «Doch unter anderem die neuen Medien, die wenig Spielraum bieten, was das vermeintlich «richtige» Aussehen, den richtigen Körper, die richtige Kleidung betrifft, akzentuieren die Problematik.»
Kinder und Jugendliche wollen dazugehören – vieles entscheidet sich an Themen wie der Hautfarbe, der Frisur, den richtigen Markenkleidern. «Dabei wäre es wichtig, den Diskurs der Vielfalt und Differenz zu fördern», sagt Falkenreck. Das fange nicht erst in der Schule an – sondern beispielsweise bei der Auswahl an Kinderbüchern. «Da hat die Schweiz Nachholbedarf», sagt die Forscherin.
Was also tun?
Jugendliche in positivem Selbstbild unterstützen
Eine vorurteilsbewusste Erziehung sei wichtig, sagt Falkenreck. «Fragen Sie sich: Wie kann ich Kinder und Jugendliche in ihrem positiven Selbstbild unterstützen? Wir müssen zusehen, dass wir ein Klima schaffen, das Anfeindungen erschwert, aber auch Jugendliche stärken, die nicht dem Ideal entsprechen.» Tatsächlich werden Kinder und Jugendliche, die aus einem sehr behüteten Elternhaus stammen oder von der vermeintlichen Norm abweichen, eher Opfer von Ausgrenzung und Mobbing. Defizite, egal, welcher Art, können das Risiko, gemobbt zu werden, in gewissen Gruppensituationen erhöhen.
Sie genügen aber nicht, um Mobbing und Ausgrenzung zu erklären. Untersuchungen zeigen, dass sich Mobbingopfer im Hinblick auf ihr Sozialverhalten nicht von anderen Kindern unterscheiden – bis auf den Punkt, dass sie sich etwas weniger gut wehren können.
Dieser Befund sei jedoch mit Vorsicht zu geniessen, weil Kinder erst befragt würden, wenn sie bereits Opfer geworden sind, sagt Françoise Alsaker, Pionierin der Mobbingforschung in der Schweiz, gegenüber dem Magazin «Fritz & Fränzi». Mobber auf der anderen Seite, sagt Alsaker, hätten im Vergleich zu unbeteiligten Altersgenossen weniger Einfühlungsvermögen und schwächer ausgeprägte moralische Werte. Demgegenüber können sie sich gut durchsetzen, suchen den Kontakt zu anderen, führen gerne an.
Das Opfer wird als Schuldiger hingestellt
Doch solche Kinder und Jugendliche werden nicht automatisch zu Mobbern. Das hängt sehr stark vom Zuhause ab, vom Schulklima – und auch davon, wie die Gruppenkonstellation ausfällt: Ist die Mehrheit der Klassenmitglieder sozial positiv eingestellt, wird ein Kind seinen sozialen Status nicht verbessern können, indem es andere plagt. Es fehlt ihm an Unterstützern und Publikum.
Das Problem ist jedoch nach wie vor, dass Mobbing von vielen Eltern und auch Lehrpersonen zu spät bemerkt wird – und, ähnlich wie bei der Diskussion zu sexuellen Übergriffen – eine Tendenz besteht, das Opfer als Schuldigen hinzustellen. In vielen Köpfen gilt nach wie vor: Wenn jemand gehänselt wird, wird er doch wohl eine Mitschuld haben. Genau damit spielen die Täter – denn das gehänselte Kind verändert sein Verhalten durch die Attacken tatsächlich.
Fakt ist: Die Erfahrung, ausgegrenzt zu werden, hat reale Folgen. Deshalb gilt es, sensibilisierter zu agieren. Und auf Bedürfnisse einzugehen, sagt Co-Autorin Falkenreck. «Die Kinder und Jugendlichen sagen, dass sie ein Bedürfnis nach weniger Streit haben, nach weniger Gewalt und mehr Unterstützung von Lehrpersonen, die vermitteln mit den Kindern und Jugendlichen gemeinsam nach Lösungen suchen.» Jetzt gelte es, diese Stimmen auch ernst zu nehmen. Und als Erwachsene Verantwortung zu übernehmen.