
Wie Literatur gelingen kann – das waren die Literaturtage Zofingen
«Können alle schreiben lernen?» Philipp Tingler, der ebenso lustvoll streitbare wie differenziert-engagierte Literaturkritiker und Autor meint: «Nein.» Zumindest nicht für drucktaugliche Literatur. «Der metaphysische Rest ist nicht lernbar.» Und bietet sich an, Geld dafür zu nehmen: Nicht als Mentor, sondern als Publikationsverhinderer. Nur wäre das ein etwas teureres Mentoringprogramm. Der angriffige Ton ist gesetzt. Gegenfeuer? Findet dieser nicht angemessen genug. Autorin und Schreibcoach Michèle Minelli verteidigt ihren Berufsstand: Viele kämen zu ihr, um wieder zum Schreiben zu finden. Was macht das Ich in diesem Fluss des Schreibens? Sie könne Menschen dabei helfen, ihre Innerlichkeit zu entdecken. Doch im Grundsatz opponiert sie nicht: «Viele wollen publizieren. Doch die Hälfte von ihnen liest nicht einmal.»
Manfred Papst, NZZ-Literaturkritiker, nennt drei Kriterien für gelingendes literarisches Schreiben: Erstens ein eigener Fingerabdruck, zweitens Welthaltigkeit, drittens Dringlichkeit.» Welthaltigkeit schreibt sich auch Tingler auf die Fahne. Universelle menschliche Erfahrung gelte es zu vermitteln – und keine identitätspolitischen Betroffenheiten. Hermetische Texte schaffen keine Identifikationen. Sich selber Sichtbarkeit zu verschaffen, sei das Anliegen vieler, doch Selbstdarstellung würde oft mit Emanzipation oder anderen Anliegen verwechselt. Papst meint: Schreiben sollen sie, das Publizieren aber unterlassen. Die NZZ rezensiere prinzipiell keine Bücher aus dem Eigenverlag. Die Runde ist sich einig: Zwar lässt sich an Literaturinstituten und Autorinnenschulen wie Biel oder Leipzig die Technik erlernen. Ein Passierschein zu gelingender Literatur ist das aber nicht.
Unverschränkte Zoologie und Anthropologie
Pascal Janovjak überblickt am Samstagmittag mit «Der Zoo in Rom» ein ganzes Jahrhundert. Die Menschen sind den Tieren als eigene Form animalischer Wesenheiten den Zootieren beigestellt. «Mit gesundem Misstrauen» können einander der Ameisenbär und der Wärter Oscar in die Augen schauen. Janovjak belässt sowohl Tieren wie auch Menschen ihr Geheimnis. Während er sie einander nicht in den Dienst stellt, legt er zugleich einen 100-jährigen Kolonialismus in all seinem Schrecken dar. So ganz nebenbei lässt er ein faszinierendes zoologisches Panoptikum erstehen.
Der Schriftstellerin Regina Dürig ist der Mensch in «Federn lassen» Studienobjekt genug. Die im Zeilenfall gedichtartig zur Novelle rhythmisierten und zusammenmontierten Miniaturen sind durchlässig für die Erfahrbarkeit von Übergriffen. Wie viele dieser nur scheinbar kleinen Verletzungen in einer Lebensbiografie müssen geschehen, bis man vorübergeht, statt zu helfen? Da klingt viel nach.
«Weil er sich schämt, sich klein machen, sich zum Verschwinden bringen will», sagt der schwule schwarze Schriftsteller Max Lobe mit Kameruner Wurzeln. Er entgegnet Moderator Daniel Landolfs Frage, weshalb sich sein Held Mwane in «Drei Weise aus dem Bantuland» nicht selbstbewusster gegen erlittene Diskriminierungen in der Schweiz wehrt? «Man kann die Angst kultivieren, aber nicht die Scham. Sie ist in mir, sie ist in Mwane drin.»
Herrlich unverfroren agiert Silvia Tschui mit ihrem wild zwischen Zeiten und Orten hin und her switchenden Mehrgenerationen-Roman «Der Wod». Vorstellungen und Traumata setzen sich über die Generationen hinweg fort – und sei es nur in Form von Gegenwehr und Korrektur. Sie bietet mit Philipp Schaufelberger an der Gitarre ein romanfigurenzentriertes Wunschkonzert. Querbeet singt sie an diesem Samstagabend durch die Musikstile: Nicht immer perfekt – aber stets authentisch. So wohltuend frech können Autorinnen sein.
Und dazu so unglaublich akribisch faktentreu und klug, damit Georges Simenon und Friedrich Glauser zusammen glaubhaft einen Roman schreiben können. So eben wie in Ursula Haslers virtuoser Montage «Die schiere Wahrheit». Moderator Hanspeter Müller-Drossaart ist überwältigt. Ein Lesezwang: Weil Simenons Amélie Morel Glausers Hedy Studer beim gemeinsamen Stricken mitentwirren und der Roman damit ein untergebutterter Emanzipationskrimi ist.
Beat Sterchi, der Autor von «Blösch» (1983), einem erratischen, brandaktuellen Pfeiler der Schweizer Literaturgeschichte, pflegt seinen Garten, einen spanischen Huerto. Auf hintersinnige Art gibt «Capricho» (Laune) Antwort darauf, was es braucht, damit Literatur gelingen kann. In einen langsamen Zeitstrom hineingeworfen folgen die Leser Rezepturen des Gartenbaus, auf deren Folie eine Poetik des Schreibens gedeiht und sich Worte zu solidem Mauerwerk schichten. Schlingel Sterchi dehnt seine Lesung und trägt jede einzelne dreiteilig angelegte Kapitelüberschrift mit genüsslichem Understatement vor.
Die Bündner Schriftstellerin Romana Ganzoni setzt mit «Magdalenas Sünde» ein Ausrufezeichen zum Abschluss. Ihre Emanzipationsnovelle gibt der prostitutionsversehrten Konditoreiverkäuferin Madleina eine Stimme. Kraft ihrer Fantasie schafft sie sich einen Freiraum, den sie irgendwann betreten kann. Sie zeigt: Möglich ist nur, was vorstellbar ist.
Zwar folgten die Literaturtage keinem Motto: Doch als anregende Schule des Lesens und Schreibens – vor allem des Nichtschreibens – haben sie bestens funktioniert.
Literaturtage zwischen Intimität und Witz
Verstecken muss sich das Schweizer Literaturschaffen nicht. Auch im eigenen Garten blüht überraschend und bereichernd Andersartiges. Statt einen coronabedingten wilden Ritt mit dem Gastland Kanada zu wagen, hat sich Programmleiterin Julia Knapp schon im März dazu entschieden, heimischem Schaffen den Vortritt zu geben. Mit Gewinn: Die Auswahl der Autorinnen und Autoren bestach durchs Band. Für das Programm wie auch die Organisation durfte Sabine Schirle, Präsidentin der Literaturtage Zofingen, viel Lob entgegennehmen: «Die Leute waren begeistert und haben sich keine Minute gelangweilt. Einige Gäste haben alle unser zwölf Veranstaltungen besucht. Das hat mich besonders gefreut.»
Einmal mehr hat sich das geräumige Kulturhaus West als Veranstaltungsort bewährt: Auch dank der Restauration im warmen Zelt im Garten, zuzüglich der Tische und Stühle im Freien, je nachdem, wie sich die Sonne zeigte. Julia Knapp hat auf Qualität und eine gute Durchmischung gesetzt. Durch ein alles verbindendes Motto wollte sie sich nicht einschränken lassen: «Wir haben unterschiedlichste Texte erlebt, von berührend intim bis unterhaltsam und humorvoll», zieht sie Bilanz. Stets hatte es mindestens 40 Personen im Publikum, wobei Beat Sterchi am Sonntagmittag mit seinem Roman «Caprichio» am meisten Publikum anzog. Wen wundert’s: Das diesjährige Frankfurter-Buchmesse-Gastland Kanada hat niemand vermisst.
Bewährt haben sich die für spannende Gespräche unerlässlichen Moderatorinnen und Moderatoren. Unter anderen überzeugten die souverän zweifach auftretenden Monika Schärer und Hanspeter Müller-Drossaart mit Einfühlsamkeit und spontanem Witz. So lässt sich denn entspannt dem Jahr 2022 entgegenblicken: Am letzten Oktoberwochenende empfangen die Zofinger Literaturtage das Gastland Spanien, sofern nicht alle Stricke reissen. Noch steht der Entscheid aus, ob die Austragung auch im Kulturhaus West stattfinden wird. (mif)