Der Gaspreis ist explodiert: «Ich habe noch nie einen solchen Preissprung erlebt»

Herr Blättler, erleben Sie als Energieversorger unruhige Tage und viele besorgte Anfragen, weil der Gaspreis in den letzten Wochen derart explodiert ist?

Markus Blättler: Ich habe sogar sehr unruhige Tage hinter und wohl auch noch vor mir. Seit der Bekanntgabe der starken Preiserhöhung durch die Industriellen Betriebe Wohlen haben auch wir besorgte Nachfragen.

Mit gutem Grund?

Ja. Vor einigen Tagen haben wir mit anderen Gasversorgern eine Videokonferenz durchgeführt. Die dort von unserem Lieferanten Gasverbund Mittelland genannten Preise waren schon zwei Tage später nicht mehr aktuell. Ich bin schon lange im Geschäft, habe aber einen derartigen Preissprung noch nie erlebt. Das ist einmalig.

Vor Fukushima waren die Preise aber auch hoch.

Das stimmt, sowohl für Gas als auch für Strom. Doch jene Preise waren halb so hoch wie heute. Aktuell müssen viele Versorger sogar überlegen, ob sie genug Liquidität haben oder Geld aufnehmen müssen, um die derzeit enormen Preise für den Gaseinkauf vorfinanzieren zu können. Es geht dabei rasch um Millionenbeträge.

Aber Sie bekommen das Geld ja via Preiserhöhungen von den Kundinnen und Kunden zurück?

Ja, Erhöhungen sind leider unumgänglich, das schmerzt uns Versorger sehr. Aber das Gas wird zum grossen Teil quartalsweise weiterverrechnet. Lange dümpelte der Gaspreis auf tiefem Niveau, da war das kein Problem, jetzt schon.

Wer ist denn schuld an dieser Preisexplosion? Russland, China, Corona oder alle zusammen?

Eins vorweg: Wir beziehen das Gas mehrheitlich aus dem europäischen Raum, vorab aus Norwegen, auch aus Holland. In Norwegen sind jetzt einige Plattformen in Revision. Das kommt alles zusammen, weil sie wegen Corona lange zuwarteten. Der Preis steigt aber auch, weil wir einen langen, kalten Winter hatten und viele Gasspeicher in der Hoffnung auf bessere Preise lange leer blieben. Die muss man jetzt aber auffüllen, alle wollen gleichzeitig Gas, natürlich auch, weil die Wirtschaft nach dem Coronaschock wieder anläuft.

Aber es gibt ja noch Gas aus anderen Regionen, gerade Russland?

Dazu ist zu sagen, dass Russland seine Verträge einhält, es drosselt die Lieferungen nicht. Russland ist ein verlässlicher Lieferant. Putin setzt zudem auf Langfristverträge, da kann man auch vernünftige Preise aushandeln. Solange Gas so billig war, setzten aber die meisten auf Kurzfristigkeit. Das ging lange gut, jetzt gar nicht mehr.

Was bedeutet das?

Wir müssen unsere Gas-Beschaffungsphilosophie überdenken. Wobei anzufügen ist, dass wir hier im Aargau kleine Fische sind und nicht viel Einfluss darauf haben. Denn bisher hatten wir beim Gas – anders als beim Strom – keine Möglichkeit, Jahre im Voraus am Markt einzukaufen.

Also hat Putin keine Schuld an den hohen Preisen?

Er macht jetzt schon nicht extra den Gashahn auf, Russland profitiert natürlich sehr von den hohen Preisen. Aber es erfüllt seine Lieferverpflichtungen.

Woran liegt es denn noch, dass der Preis so hoch ist?

China will aus sehr zu begrüssenden Klimaschutzgründen weniger Kohle nutzen und fragt dafür enorm viel Gas nach. In Katar steht die weltweit grösste Gasverflüssigungsanlage. In diesem Aggregatszustand braucht Gas 600-mal weniger Platz, das ist äusserst attraktiv. Doch der grösste Teil der Produktion aus Katar geht nach China.

Ist das Ende der Fahnenstange nach der Vervielfachung des Preises auf dem Markt denn endlich erreicht?

Ich rechne bis in den Frühling hinein mit dieser Ausnahmesituation. Ich gehe aber schon davon aus, dass die Preise wieder runterkommen. Sie sind jetzt und auch fürs erste Quartal 2022 noch sehr hoch, 2023 und 2024 sehen im Moment deutlich besser aus. Ich erwarte schon eine gewisse Entspannung, sobald die Nord-Stream-2-Gasleitung von Russland nach Deutschland in Betrieb geht. Das braucht aber noch Geduld.

Zeigt dies nicht, dass die Abhängigkeit vom Gas zu gross ist, weil wir es kaum speichern können?

Das ist tatsächlich ein Problem. Den Strom können wir in Speicherseen zwischenlagern beziehungsweise bei Bedarf von dort abrufen, Kohle kann man lagern, Öl auch. In der Schweiz haben wir aber keine Gasspeicher. Darüber wird zwar schon lange diskutiert. Meines Erachtens gäbe es in der Schweiz technisch machbare Speicherlösungen.

Wo?

Beispielsweise in unterirdischen Kavernen der Rheinsalinen oder im Haslital entlang der Transitgasleitung nach Italien. Aber die politische und finanzielle Machbarkeit ist eine ganz andere Frage. Wir müssen uns Lösungen überlegen, um die Abhängigkeit zu verringern.

 

Schlägt jetzt die Stunde von Biogas?

Wir von der SWL mischen unserem Gas 20 Prozent Biogas bei. So beträgt der CO2-Ausstoss gegenüber Öl immerhin nur noch 50 Prozent. Gewiss gibt es noch Potenzial für weiteres Biogas. Alle Stadtwerke sind auf der Suche nach zusätzlichem Biogas, etwa aus landwirtschaftlichen Anlagen. Doch das Potenzial ist begrenzt.

Wie sind denn die Dimensionen im Ganzen gesehen?

Ich kann Ihnen sagen, wie es bei uns aussieht. Wir von der SWL liefern jährlich 250 bis 300 Gigawattstunden. Selbst produziertes Biogas hat dabei einen Anteil von 1 bis 2 Prozent. Vielleicht können wir das auf 4 Prozent steigern, mehr kaum.

Profitieren die Biogasproduzenten auch von den höheren Preisen?

Wir müssen uns überlegen, ihnen jetzt auch mehr zu zahlen (wir haben den Preis zu ihren Gunsten schon mal angehoben), solange der Preis so hoch ist, selbst wenn sie keine höheren Kosten haben. Wir hoffen natürlich, dass dies andere zu einem Ausbau der Kapazität motiviert.

Die Zeitungen waren lange Zeit voll mit Werbung für Erdgas. Kann man jetzt überhaupt noch ein neues Netz aufbauen?

Es spricht schon einiges für Gas. Da hat der Kaminfeger kaum Arbeit, man hat keinen Heizkessel im Keller, es riecht dort nicht nach Heizöl, der Preis war lange ausserordentlich tief, der CO2-Ausstoss ist deutlich tiefer als bei einer Ölheizung. Wenn in unserem Gebiet eine Strasse saniert wird, fragten wir deshalb bisher, ob Interesse da ist. Dann bauten wir das Netz punktuell aus.

Machen Sie das immer noch?

Heute muss man niemanden fragen. Da herrscht tote Hose. Zu sagen ist aber, dass der Preis auch wieder runtergehen kann. Dann geben wir das genauso schnell weiter, wie es jetzt raufgeht.

Wie kann denn ein Hausbesitzer auf die hohen Preise reagieren, um den Kostenschub einzugrenzen?

Anders als bei einer Ölheizung, wo man den Tank auffüllen kann, geht das beim Gas nicht. Viel bewirken kann man mit der Heiztemperatur. Die Faustregel lautet, ein Grad mehr oder weniger Wärme im Haus macht 6 Prozent Energiekosten aus. Wenn man also die Temperatur von 21 auf 20 Grad senkt, spart man rund 6 Prozent. Im umgekehrten Fall wird es 6 Prozent teurer. Mittel- und langfristig können Hausbesitzer natürlich die Fassade energetisch sanieren, bessere Fenster einbauen, den Dachboden abdichten usw.

Und was können Mieterinnen und Mieter tun?

Auch sie können die Temperatur in den Innenräumen gegebenenfalls senken. Gerade in der kalten Jahreszeit ist es wichtig, die Fenster nicht stundenlang offen zu haben und gewissermassen zum Fenster hinaus zu heizen. Mehrfach täglich kurz zu lüften spart Wärme.

Haben Sie auch gewerbliche Kunden, Industrie, die aufgrund der hohen Preise reagieren müssen?

Wir führen natürlich Gespräche auch mit Grosskunden. Je nach Energieintensität ihrer Produktion tut ihnen der Preis besonders weh. Anders als im Ausland muss hier aber noch keine Firma darüber nachdenken, deswegen (auch der Preis für CO2-Zertifikate steigt rasant) den Betrieb zu drosseln oder gar einzustellen.

Aber das spürt man über kurz oder lang auch bei den Preisen für Konsumprodukte.

Zum Teil jetzt schon, auch viele Rohstoffe wie zum Beispiel Stahl sind massiv teurer geworden. Die wiedererwachte Inflation wird auch von den hohen Energiepreisen angetrieben. Am meisten schlagen da Öl (auch an der Tankstelle) und Gas zu Buche und in deren Folge der Strompreis. Er hat inzwischen ungeahnte Höhen erklommen, ist aber bei weitem nicht so hoch wie beim Gas.

Kann man im Umkehrschluss sagen, dass dafür die Stromproduktionsanlagen in der Schweiz, die jahrelang kaum noch etwas abwarfen, wieder rentieren?

Definitiv, ja.

Den Strompreis fürs neue Jahr mussten die Versorger schon im August kommunizieren. Könnte da auch noch was nachträglich kommen?

In diesem Jahr nicht. Das Gesetz verlangt, dass wir den Preis fürs nächste Jahr im August verbindlich festlegen und nach Bern melden. Derzeit kaufen wir Strom aber auch teurer ein. Wenn sich bei den Versorgern darob eine Unterdeckung ergibt, dürfen sie diese Mehrkosten in den nächsten drei Jahren gestaffelt ihren Kundinnen und Kunden weiterverrechnen. Ich denke schon, dass der Strompreis in einem Jahr nochmals steigen wird. Es nimmt aber keinesfalls Dimensionen an wie beim Gas.

Warum nicht?

Weil praktisch alle Versorger den Strom über drei Jahre verteilt einkaufen, um Preisspitzen abzufedern. Wir selbst kaufen den Strom sogar in zwölf Tranchen. Damit wir trotzdem einen guten Preis bekommen (man muss schon gewisse Mindestmengen nehmen), kaufen wir für fünf weitere Versorger in unserer Region ein. Aktuell kaufen wir schon Strom für 2023, zu einem klar höheren Preis. Zum Glück aber ist es nicht vergleichbar mit dem aktuellen Gaspreis.

Könnte das eine Gelegenheit sein, auf einheimische Energie wie Holz umzusteigen?

Manche liebäugeln damit. Wobei Holz natürlich auch begrenzt ist. Ich erinnere mich an einen Winter, in dem kleine Holzöfen, Cheminées, nicht mehr beheizt werden durften, weil die Feinstaubbelastung in der Luft so hoch war. Ich bin überzeugt, dass uns diese Thematik bald mehr beschäftigen wird. In Norwegen dürfen heute schon keine neuen kleinen Holzheizungen mehr gebaut werden.

Welche Alternative sehen Sie denn sonst?

Ich warne davor, einfach kleine Elektroöfen in Betrieb zu nehmen. Auch der Strom ist teuer. Zudem sind wir im Winter sowieso schon von Stromimporten aus dem Ausland – vorab aus Deutschland – angewiesen. Kommt dazu, dass damit die Gefahr einer Überlastung des Stromnetzes steigt.

Und Deutschland wird bald nicht mehr so viel Strom exportieren können?

Deutschland steigt aus der Kohle und der Kernenergie aus. Nächstes Jahr werden im süddeutschen Raum zwei weitere KKW abgeschaltet. Dann gibt es im wirtschaftsstarken süddeutschen Raum deutlich weniger Strom. Ihr Problem ist dann, den überschüssigen Windenergiestrom von der Nordsee rechtzeitig zu ihnen zu transportieren. Die Leitungskapazitäten reichen aber immer noch bei weitem nicht. Bei allfälligen künftigen Engpässen werden sich die Menschen in Süddeutschland punkto Stromversorgungssicherheit natürlich selbst am nächsten stehen. Darauf sollten wir uns vorbereiten und zum Beispiel schauen, dass unser Winterstrombedarf keinesfalls weiter steigt.

Zur Person

Markus Blättler (60) ist diplomierter Elektroingenieur ETH und bildete sich weiter in NDS Unternehmensführung Fachhochschule. Er ist seit 2008 Geschäftsführer der SWL Energie AG mit Sitz in Lenzburg. Er ist darüber hinaus Geschäftsführer des Abwasserverbandes Region Lenzburg, Vorstand der Aabach-Genossenschaft und Präsident des Verbandes Aargauischer Stromversorger (VAS). Diesem Verband sind praktisch alle der rund 100 lokalen und regionalen Stromversorger angeschlossen (ohne den grössten Versorger im Kanton, die AEW Energie AG, die zu 100 Prozent dem Kanton gehört).