
Das Ausland verschärft wieder – die Zertifikatspflicht am Arbeitsplatz führt zu angespannter Stimmung
Europa staunt mal wieder über die helvetische Insel in seiner Mitte: Alles offen, wenig Massnahmen und eine Impfquote weit unter jener der europäischen Nachbarn. Doch während in der Schweiz von Verschärfung derzeit keine Rede ist, werden die Schrauben in vielen Ecken der Alten Welt wieder deutlich angezogen. Die impfskeptische Gruppierung Mass-Voll reagiert auf ihrem Telegram-Kanal bereits nervös auf die jüngsten Verschärfungen in Italien und Österreich. «Die Schlinge zieht sich zu!», warnen die Massnahmengegner.
Nervös ist die Stimmung derzeit auch in Wien. Dort debattiert das Parlament über einen Gesetzesentwurf, der die in Italien seit Freitag geltende 3G-Regelung für alle Arbeitnehmenden in leicht abgeschwächter Form kopieren würde. Angestellte aller Branchen, in denen Kontakt zu Kunden oder Arbeitskolleginnen unvermeidbar ist, dürften nur noch mit Zertifikat bei der Arbeit erscheinen.
Zwei Drittel der Franzosen wollen Impfpflicht bei der Arbeit
Ziel des Gesetzesentwurfs ist eine sofortige Erhöhung der stagnierenden Impfquote (derzeit bei 62 Prozent) vor der anbrechenden kalten Jahreszeit. Unter anderem sollen Coronatests per sofort kostenpflichtig werden. Die Oppositionsparteien sind jedoch entschieden dagegen. Die rechte FPÖ vermutet hinter der Verordnung gar eine Impfpflicht durch die Hintertür. Aufgrund der Mehrheitsverhältnisse dürfte das Gesetz für mehrere Wochen blockiert sein.
Vor einer Blockade ganz anderer Art fürchtete sich vergangene Woche unser südlicher Nachbar Italien. Regierungschef Mario Draghi machte am Freitag ernst und setzte per sofort die 3G-Pflicht für sämtliche 23 Millionen Arbeitnehmenden im Land durch – ohne Ausnahme.
Wer sich weder impfen noch testen will, dem droht in Italien seit vergangener Woche die Entlassung. Doch entgegen den Befürchtungen blieb die Situation bis auf ein paar wenige Protestaktionen – im Hafen von Triest etwa – ruhig. Italiens Impfquote liegt bei fast 80 Prozent. Der politische Protest gegen den scharfen Coronakurs (kein Land in Europa hat derzeit härtere Massnahmen) ist leise. Fast alle Parteien tragen Draghis Strategie mit.
Mitverantwortlich dafür ist auch die wirtschaftliche Situation der Italiener. Das Land hat sich nie vollends von der Eurokrise erholt. Schon vor der Pandemie war das Geld bei vielen knapp. Die Lockdowns haben vieles verschlimmert, weil die Regierungshilfen deutlich weniger üppig ausfielen als in anderen Ländern. «Wir tun alles, damit das hier rasch vorüber ist», sagen sich viele Italienerinnen und Italiener.
Ähnlich sehen das laut einer aktuellen Umfrage die Franzosen. Zwei Drittel der Bevölkerung unterstützen eine Zertifikatspflicht am Arbeitsplatz. Fragt man bei der Führungsetage nach, sind es sogar vier von fünf französischen Chefinnen, die nur noch Getestete oder Geimpfte im Büro, im Spital, an den Schulen oder in Gastrobetrieben begrüssen möchten.
Auch Geimpfte müssen in Lettland in den Lockdown
Ein entsprechender Beschluss aus Paris fehlt jedoch bislang. So weit wie Italien will man (noch) nicht gehen. Dafür wird im Elysée laut darüber nachgedacht, eine dritte Impfung für obligatorisch zu erklären. Paris will boosten.
In Deutschland ist bereits jede vierte neu verabreichte Impfung ein sogenannter Booster. Bei unserem nördlichen Nachbarn, der sich in den kommenden Wochen die Frage stellen wird, ob die «Ampel»-Regierung kommt oder nicht, steht die pandemische Ampel derzeit auf Gelb. Die Zahlen steigen– aber moderat. Die Regierung ist vorsichtig – und lässt doch immer wieder Zuversicht durchschimmern.
Am Montag verkündete CDU-Gesundheitsminister Jens Spahn, es bestehe derzeit keine Gefahr, dass das Gesundheitssystem überlastet werden könnte. Die Ausnahmeregelung, die es Berlin erlaubt, über alle Bundesländer hinweg einheitliche Massnahmen zu verhängen, soll deshalb bald auslaufen. Die Regionen sollen wieder selber darüber entscheiden, wie sie das Virus bekämpfen. Auf eine 3G-Pflicht am Arbeitsplatz konnten sich die Gesundheitsminister der 16 deutschen Bundesländer zuletzt jedenfalls nicht verständigen.
Trist sieht die Lage derzeit in gewissen Staaten im Osten aus. Der lettische Regierungschef Krisjanis Karins hat gestern einen ab Donnerstag geltenden Lockdown für das ganze Land verkündet. Bis am 15. November dürfen die Letten ihr Haus zwischen 20 Uhr und 5 Uhr nur noch aus triftigen Gründen verlassen.
«Ich entschuldige mich bei allen Geimpften, aber diese Einschränkungen gelten für uns alle», sagte Karins. Die Ansteckungszahlen in Lettland sind in den vergangenen Tagen in neue Rekordhöhen geklettert.
Auch Russland vermeldete einen traurigen Rekord. Anfang Woche starben binnen 24 Stunden mehr als 1000 Personen an Covid-19: so viele wie noch nie seit Ausbruch der Pandemie. Nur gerade 30 Prozent der russischen Bevölkerung sind bislang geimpft.