
Berset schreckt davor zurück, Zertifikatspflicht aufzuheben – Parlamentarier fordern Ausstiegsplan
Obwohl im Ausland die Massnahmen tendenziell wieder verschärft werden und das Bundesamt für Gesundheit (BAG) am Dienstag ein düsteres Bild der epidemiologischen Lage hierzulande gezeichnet hat, gerät die Zertifikatspflicht immer mehr unter Druck. Viele Parlamentarier sind der Meinung, dass die aktuelle epidemiologische Lage die Massnahmen des Bundesrates nicht mehr rechtfertige.
Bundesrat Berset hat die Kritik aufgenommen und an der letzten Medienkonferenz vor einer Woche gesagt, dass die Regierung die Aufhebung der erweiterten Zertifikatspflicht prüfen wolle. Doch jetzt hat Berset wohl kalte Füsse bekommen. Laut gut unterrichteten Quellen wollte der Bundesrat diesen Mittwoch ursprünglich drei Vorschläge in die Konsultation geben, unter anderem: Die vollständige Aufhebung der Zertifikatspflicht.
Doch nun krebst der Gesundheitsminister zurück, die Lage ist zu instabil. Vorerst kommt nur ein Vorschlag auf den Tisch, nämlich ein Extra-Zertifikat für Genesene. Aktuell müssen Genesene einen positiven PCR-Test vorlegen, um ein Zertifikat zu erhalten. Einige Kantone hatten angeregt, dass auch serologische Tests (Antikörpertests) zum Erhalt des Zertifikats berechtigen sollen. Offenbar kommt Berset diesem Wunsch nach. Dem Vernehmen nach will er erst Mitte November über die Aufhebung der Zertifikatspflicht diskutieren.
Berset will mit dem Extra-Zertifikat für Genesene wohl etwas Druck aus der Diskussion nehmen. Denn Ende November kommt das Covid-Gesetz an die Urne und das führt dazu, dass die Kritik an der Zertifikatspflicht zunimmt – und zwar von links über die Mitte bis rechts.
So sagte die Solothurner SP-Nationalrätin Franziska Roth kürzlich in dieser Zeitung, dass es an der Zeit sei, die Zertifikatspflicht infrage zu stellen. Roth sorgt sich um die Grundrechte, insbesondere aber warnt sie vor schädlichen Folgen: Für psychisch Kranke, aber auch für ungeimpfte Studierende, die aufgrund der Zertifikatspflicht und der Testkosten nicht an die Universität gehen können.
Lockerung der Zertifikatspflicht trifft auf viel Zustimmung
Auch bei diversen Mitte-Parlamentariern ist die Zertifikatspflicht umstritten. Nationalrat Alois Gmür sagt etwa, dass der Bundesrat vor Wochen die Belegung der Intensivstationen als Massstab für Verschärfungen kommuniziert habe. «Das ist für mich richtig und nachvollziehbar; diese Belegungszahlen sind aktuell sehr tief.» Der Bundesrat habe jetzt gemäss seinen früheren Aussagen zu handeln, so Gmür. «Die Zertifikatspflicht ist deshalb zu lockern.»
Der Mitte-Politiker findet klare Worte: «Sollte dies nicht gemacht werden, schadet das der Glaubwürdigkeit unserer Landesregierung.» Auch Mitte-Nationalrätin Marie-France Roth Pasquier findet den Einsatz des Covid-Zertifikats zu weitreichend. Vor allem in Jugendzentren oder kleinen Restaurants fordert sie eine Flexibilisierung. «Die Lage in den Spitälern ist nicht mehr so beunruhigend, daher denke ich, dass die Aufhebung der Zertifikatspflicht gerechtfertigt wäre.»
Ähnliche Positionen vertreten auch die Mitte-Politiker Martin Candinas und Thomas Rechsteiner. Und sogar Mitte-Ständerat Peter Hegglin fordert die Aufhebung der Zertifikatspflicht; ausgerechnet er, der wegen Corona sechs Tage auf der Intensivstation um sein Leben rang. Der Fraktionschef der Mitte, Philipp Bregy, zeigt sich differenzierter: «Es braucht eine verbindliche Strategie, wie man aussteigen will.» Das sei vertrauensbildend und deshalb notwendig. Die Bevölkerung brauche eine Perspektive. «Man hat nicht 100 Chancen, um der Bevölkerung glaubwürdige Lösungen zu kommunizieren», so Bregy.
Auch bei der FDP macht man sich Gedanken über die Zertifikatspflicht. Nationalrat Philippe Nantermod (FDP/VS) sagt: «Die Impfungen sind sehr wirksam, das ist eine gute Nachricht. Wenn es so weitergeht, kann man den Einsatzbereich des Covid-Zertifikats in ein paar Wochen überdenken.» Möglich wäre es, dass das Zertifikat nicht mehr überall obligatorisch sei, oder nur bei grossen Anlässen. «Aber solche Änderungen müssen mit der epidemiologischen Situation und den verfügbaren Daten im Einklang stehen; das ist nicht nur eine politische Frage, sondern auch eine technische.»
Ähnlich sieht es FDP-Fraktionschef Beat Walti: «Angesichts der guten epidemiologischen Entwicklung und vorausgesetzt, diese bleibt in den kommenden Wochen gleich erfreulich, soll der Bundesrat eine Ausstiegsperspektive mit einem schrittweisen Abbau der Massnahmen aufzeigen.» Dadurch werde die Planungssicherheit für die Bevölkerung und die Wirtschaft verbessert. Klar bleibt aber auch: «Je höher die Impfquote, desto rascher können Lockerungen vorgenommen werden.