Aarau war sein 27. Bahnhof: «Um auf Gleis 4 zu gelangen, musste man noch über die Schienen klettern»

Ohne Bahnhof gäbe es keine Bahnhofstrasse. Und ohne Bahnhofvorstand hätte es keinen Bahnhof gegeben – zumindest bis vor ein paar Jahren. Der letzte Aarauer Bahnhofvorstand Hans Rudolf «Hallo» Scheurer erzählt.

Dieser Wutausbruch war nachhaltig. 1963 war’s, am Schalter in Meiringen, als eine Deutsche in Rage an die Scheibe polterte und «Hallo» schrie, immer wieder, «ist da jemand?» Da war jemand. Und der hiess ab diesem Moment schlicht und einfach «Hallo». Hallo statt Hans Rudolf, Hallo Scheurer, der letzte Bahnhofvorstand von Aarau, heute 80 Jahre alt.

Als Hallo Scheurer 1970 mit 29 Jahren erstmals hierherkam, war Aarau Bahnhof Nummer 27. Noch heute kann er alle «seine» Bahnhöfe der Reihe nach aufzählen, mitsamt Jahreszahlen, es ist beachtlich. Aufgewachsen in der Nähe von Langenthal, direkt an der Zuglinie, hatte es ihn schon als Bub erwischt, dieses Zugfieber. «Mir gefällt bis heute, mir vorzustellen, woher die Züge kommen und wo sie hinfahren», sagt er. Bahnhofvorstand wollte er werden, schon als Kleiner, nicht Zugführer. In all den 44 Jahren im Dienst der SBB habe es ihn nicht gereizt. «Einen Zug fahren könnte ich grad noch so, aber bestimmt nicht bremsen», sagt er und lacht. Nein, er wollte der Gastgeber sein, der Koordinator, die Anlaufstelle, der Mann, den «tout Aarau» kannte, der Chef vor Ort. Chef über seinen Bahnhof.

Als er kam, war Werner Gilgen noch Inspektor

Aarau hat es ihm angetan. Dieser mächtige, alte Bahnhofsbau mit seinen vier Gleisen, an dieser prächtigen Bahnhofstrasse gelegen, mit Bahnhofsbuffet und Schalterhalle, mit Gepäckräumen und Vorstandswohnung, wobei er selbst nie da gewohnt hat. Ein Bahnhof mit Geschichte. Als Hallo Scheurer als Betriebsbeamter nach Aarau kam, war noch Werner Gilgen Bahnhofinspektor, so hiess der Vorstand damals noch, später kam Ruedi Wassmer. Grosses Thema damals: das fehlende zweite Perron. «Um auf Gleis 4 zu gelangen, musste man noch über die Schienen klettern.» Erst fürs Eidgenössische Turnfest 1972 wurde das zweite Perron gebaut.

Vor rund 100 Jahren mauserte sich die Aarauer Bahnhofstrasse innert kürzester Zeit zu der mondänen Adresse, die sie noch heute ist. In einer losen Serie blickt die AZ ein ganzes Jahr lang auf grosse Würfe und visionäre Köpfe, von damals bis heute. Dies ist Teil 3 der Serie.

Und dann kam Gleis 0, dieser schweizweit einzigartige Sonderling. Stadtseitig angesetzt, neben Gleis 1 und ursprünglich mit der 10 versehen. «Was natürlich keiner verstand, alle suchten Gleis 10 bei der WSB drüben, allen Markierungen zum Trotz.» Inspektor Wassmer sei schliesslich auf die Idee gekommen, die 1 zu streichen. «Seither ist der Fall klar», sagt Scheurer und grinst.

Der Bahnhof anno 1987.
ETH-Bildarchiv

Die Frühschicht war ihm die liebste

Nach zwei Versetzungen – nach Solothurn von 1987 bis 1989 und nach Däniken von 1991 bis 1995 – kam Scheurer definitiv nach Aarau, diesmal als stellvertretender Inspektor. «Ich habe fast alles gemacht; Billette verkauft, im Auskunftsbüro gearbeitet, und nebenbei noch als Eisenbahnfachschullehrer gearbeitet.» Damals gab es noch drei Schichten: eine von 4 bis 12 Uhr, eine von 12 bis 19 Uhr und eine von 19 bis 4 Uhr. Die liebste war Scheurer die Frühschicht; das Erwachen des Betriebs, das Anschwellen der Passagierströme.

Hallo Scheurer im Befehlwerk anno 1979.
Katja Schlegel / Aargauer Zeitung

Am liebsten hat er im Befehlwerk gearbeitet; drei Stellwerke galt es zu bedienen, vor sich ein Tableau mit gut 150 Knöpfen. «Da musste man den Kopf ganz schön bei der Sache haben.» Wobei: Damals fuhren noch viel weniger Züge als heute. «Beim Schnellzug nach Zürich gab es Lücken von bis zu eineinhalb Stunden, das wäre heute undenkbar.» Gleichzeitig aber gab es noch Direktzüge nach Paris und Wien, das waren ihm die liebsten. «Die dufteten nach der grossen weiten Welt», schwärmt er. Und dann die Extrazüge – «1980 habe ich sogar Queen Elisabeth durchgelassen» – und die Güterzüge – «einer fuhr mit alten Pneus nach Aleppo» –, die er zeitlebens nicht mehr vergessen hat.

Die Steuerung von Olten aus hat Aarau verändert

Doch die Zeiten veränderten sich rasch, und mit ihnen die Arbeit. Aarau war der erste grosse Bahnhof, der von Olten aus ferngesteuert wurde. «Das hat den Bahnhof verändert», sagt Scheurer. Das Personal, das früher ständig da war, verschwand zusehends, der Bahnhof wurde zu einem anonymen Ort. Dann kam der bauliche Zerfall dazu, zuletzt machten Probleme mit Süchtigen Schlagzeilen.

Der Aarauer Bahnhof mitsamt dem «Träumer» im Jahr 1987.
ETH-Bildarchiv

Als dann die Diskussion um einen Neubau und damit auch die Frage nach einer möglichen Unterschutzstellung aufkamen, wehrte sich Scheurer nicht gegen das Neue. Und als es 2008 so weit war, hatte er sich, seit 2003 pensioniert, schon lange damit abgefunden. «Jetzt gab es nicht mehr nur den Beruf des Bahnhofvorstands nicht mehr, sondern auch meinen Bahnhof», sagt er. «Aber was will man tun, das ist der Lauf der Zeit.» Klagen will er nicht, und Jammern schon gar nicht. «Wir hatten eine wunderbare Zeit.» Sagt’s, und macht sich bereit für das Zmittagessen mit seinen Freunden: lauter Männer, die 1959 zeitgleich mit ihm in den Dienst der SBB eingetreten sind.

Was wäre die Aarauer Bahnhofstrasse mit ihren stattlichen Bauten ohne die Menschen, die sie beleben? Wir suchen Personen, die spezielle Erinnerungen an die Bahnhofstrasse haben: Vielleicht haben Sie im alten Globus gearbeitet oder am Bahnhof die grosse Liebe getroffen? Vielleicht hat Ihrer Familie einst einer der Gärten entlang der Strasse gehört oder eines der inzwischen verschwundenen Geschäfte? Erzählen Sie uns davon! Erzählen Sie uns Ihre Geschichte in wenigen Sätzen und schicken Sie und diese mit dem Betreff «Bahnhofstrasse» an redaktionaarau@chmedia.ch.