
Aargauer Tierheim gehen die Vierbeiner aus – «Ich habe einen Horror vor dem, was danach kommen könnte»
Rund um das alte Bauernhaus über den Dächern des Siggenthals ist es ruhig. Bei der Ankunft streicht nicht wie üblich eine Katze um die Beine, nur ein einziges Mal bellt ein einziger Hund. Es handelt sich um Red, den American Pitbull Terrier – ein Listenhund. Er ist momentan der einzige Dauergast im Tierheim des Aargauischen Tierschutzvereins (ATS) in Untersiggenthal. Ausser ihm sind noch 13 Katzen abzugeben sowie eine Handvoll Kaninchen. Ansonsten ist das Tierheim wie leergefegt.
«Wir hatten noch nie so viele Interessenten wie jetzt», sagt ATS-Präsidentin und Heimleiterin Astrid Becker. «Schalten wir auch nur ein einziges Büsi auf, hagelt es Anfragen.» So viele möchten sich in der Coronapandemie ein Haustier zulegen, so viele gehen leer aus. Der Ansturm auf Tierheime kommt nicht von ungefähr. «In der Krise haben plötzlich viel mehr Menschen Zeit für ein Tierchen», sagt Becker. Sie sind öfters zu Hause, arbeiten häufiger im Homeoffice, fliegen kaum noch in die Ferien. Der perfekte Zeitpunkt also, die Familie um ein vierbeiniges Mitglied zu erweitern.
Nach der Krise: Heimleiterin befürchtet eine Trendwende
Man könnte meinen, die Tierheime sind froh darüber. Ihre Schützlinge finden ein neues Plätzchen, es gibt weniger zu tun. Nicht so Becker:
«Der Run macht mir Angst. Ich habe einen regelrechten Horror vor dem, was danach kommen könnte.»
Denn Becker befürchtet eine Trendwende, befürchtet, dass sich die leeren Plätze bald wieder füllen könnten, dass einige ihr neu angeschafftes Tier wieder loswerden wollen. Kriegen wir die Krise nämlich in den Griff und kehren wir vom Homeoffice wieder nach und nach zurück ins Büro, könnten vor allem neue und unerfahrene Tierhalter vor bislang unbekannten Herausforderungen stehen.
Wer sich ein Tier nur aus Langeweile anschafft, wird es mit der Wende zurück zum Alltag schnell als zusätzliche Belastung empfinden. Auch für die Tiere bedeutet eine Veränderung viel Stress. Schliesslich haben sie sich mittlerweile daran gewöhnt, dass ihr Herrchen den ganzen Tag lang bei ihnen ist. Kehrt es wieder ins Büro zurück, liegen stundenlanges Gassigehen und ausführliche Streicheleinheiten nicht mehr drin. Das wird Folgen nach sich ziehen: Miezi pinkelt aus Protest plötzlich rein, Bello lässt seine angestaute Energie am Sofa aus.
Das Haustier dann wieder wegzugeben, ist aber nicht die einzige Möglichkeit. Becker sagt:
«Mit etwas Geduld kann man sein Tier langsam ans Alleinsein gewöhnen.»
Viel besser funktioniere das bei Katzen – vor allem, wenn sie zu zweit oder als Freigänger gehalten werden. Ein Hund muss trotzdem regelmässig raus, um sein Geschäft zu erledigen. Deshalb klärt der ATS immer im Voraus ab, wie sich der Halter seine Zukunft nach der Pandemie vorstellt. Könne er keine befriedigende Antwort liefern, erhalte er eine Absage. «Bei von uns vermittelten Tieren mache ich mir deshalb weniger Sorgen», sagt Becker. Es seien die anderen Tiere, um die sie sich sorgt. Diejenigen, die unüberlegt per Mausklick im Internet bestellt wurden. Und von denen gäbe es momentan viel mehr als sonst.
Menschen bescheren mehr Arbeit als die Tiere
Auch wenn das Tierheim im Moment leer erscheint, bleibt viel zu tun. Weil Ferientiere wegen der Krise wegfallen, fehlt dem Tierheim eine seiner Einnahmequellen. «Nur den Legaten ist es zu verdanken, dass wir kein Minus gemacht haben», sagt Becker. Deshalb gibt es viel zu planen, zu besprechen, zu vermitteln. «Im Moment bescheren mir die Menschen mehr Arbeit als die Tiere», sagt Becker und lacht.
Auf das Foto möchte sie mit Willi. Der schwarze Kater ist Diabetiker, benötigt zwei Mal am Tag eine Spritze. «Beeinträchtigte Tiere vermitteln zu können, ist immer schwierig», sagt Becker und lockt den Kater mit ein paar Leckerli. Umso schöner sei es, wenn sie dann doch ein Plätzchen finden. Auch Listenhunde – wie Red – zu platzieren, gestaltet sich nicht einfach, da der Hund eine feste Hand braucht und der Halter einige Ansprüche erfüllen muss.
Einer der schönsten Momente in der ganzen Pandemie war für Becker denn auch, als Charly ein Zuhause gefunden hat. Dem Kater musste ein Bein amputiert werden, nachdem er einen Unfall mit einem Mähdrescher hatte. «Für solche Happy Ends lohnt sich meine Arbeit.»