Ab halb fünf war nichts mehr, wie es einmal war – ein Jahr nach dem Jahrhundert-Unwetter

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So erlebte ZT-Mitarbeiterin Jacqueline Gut aus Küngoldingen den verhängnisvollen Tag und die Tage danach.
Die Luzernerstrasse bei der Abzweigung Riedtal (Bild: Raphael Nadler)
Die Luzernerstrasse bei der Abzweigung Riedtal (Bild: Raphael Nadler)
Bottenwil (Bild: Raphael Nadler)
Bottenwil (Bild: Raphael Nadler)
General-Guisan-Strasse in Zofingen (zVg)
General-Guisan-Strasse in Zofingen (zVg)

Niemand kann zu Beginn des Tages ahnen, was an diesem 8. Juli 2017 noch passieren würde. Wie in den Tagen zuvor vergnügen sich Jung und Alt in den Badis, während das Thermometer einmal mehr auf Werte um 34 Grad ansteigt. Nur die Wenigsten interessieren sich für das Gewittertief, welches sich aus Südfrankreich nähert und der instabilen Luftschicht immer mehr Feuchte einmischt. Laut SRF Meteo sind dies ideale Voraussetzungen für heftige Gewitter. Die Uhr zeigt ungefähr halb fünf, als über dem Himmel der Region Zofingen dunkle Wolken aufziehen. Es ist die erste von zwei Gewitterfronten. Es giesst wie aus Kübeln. In drei Stunden fast so viel wie sonst im ganzen Monat Juli. Sturmböen und Hagelkörner mit einem Durchmesser von bis zu drei Zentimetern begleiten den Regen. Das Wasser kann nicht mehr abfliessen. Strassen verwandeln sich zu reissenden, schlammigen Bächen. Wasser dringt in die Häuser ein. Hans-Ruedi Hottiger, Stadtammann von Zofingen, sitzt zu dieser Zeit auf dem Balkon seines Hauses am Hirzenberg.

Dass dieses Gewitter für seine Stadt verheerende Folgen haben wird, ahnt er zu diesem Zeitpunkt noch nicht: «Ich sah zwar das viele Wasser auf der Strasse. Doch da wo ich wohne, kommt es öfters vor, dass bei grossen Regenmengen das Wasser vom Heiternplatz herunter strömt.» Erst als er eine vom Bahnhof kommende Nachbarin trifft, erfährt er, dass die Bahnhofsunterführung unter Wasser steht.

Eingesperrt im «Key 69»
Dass es ihn und seine Mannschaft nun braucht, weiss Zofingens Feuerwehrkommandant Peter Ruch sofort, als das Hagelgewitter einsetzt. Vorsorglich macht er sich auf den Weg ins Feuerwehrmagazin. In den nächsten 36 Stunden nimmt er am laufenden Band Notrufe entgegen und koordiniert die Einsätze. Ein Jahr später wird ihm der Stadtammann ein grosses Kompliment machen. Ruch habe als Kommandant grosse Arbeit geleistet. «Da hat man gut sehen können, was jahrelange Erfahrung wert ist», sagt Hans-Ruedi Hottiger.

Sein zukünftiger Stadtratskollege Peter Siegrist wird derweil von den Angestellten seines Lokals «Key 69» in der Zofinger Altstadt informiert, dass sich Wasser im Keller befindet. Fünf Minuten später ist auch er vor Ort. Die Vordere Hauptgasse steht bereits unter Wasser. Der Strom im Lokal ist weg. Sie stellen Kerzen auf und versorgen die Gäste mit Getränken. Durch den Druck des Wassers lässt sich die Türe nicht mehr öffnen. Man ist eingesperrt. Peter Siegrist versucht die Feuerwehr anzurufen, doch die Leitungen sind alle besetzt. Die Stimmung bleibt trotzdem gut: «Die eingeschlossenen Gäste hatten Spass bei diesem unfreiwilligen Abenteuer», erinnert sich Siegrist.

16 Stunden pro Tag im Einsatz
Die Erdmassen in Bottenwil können das viele Regenwasser mittlerweile nicht mehr aufnehmen. Es kommt zu diversen Hangrutschen. Sie werden Yvo Laib, den Chef des Regionalen Führungsorgans Suhrental-Uerkental, noch monatelang beschäftigen. Das Jahr 2017 bezeichnet er rückblickend als das bisher intensivste, seit er vor fünf Jahren die Leitung des RFO übernommen hatte. Nachdem am 8. Juli die erste Gewitterfront durchgezogen ist, konsultiert er die Radarbilder und sieht, dass es noch lange nicht ausgestanden ist. Mit der Feuerwehr bespricht er das weitere Vorgehen. Die ersten zwei Wochen nach dem Unwetter arbeitet er mit seinem Team täglich von 7 bis 23 Uhr. Wie er das durchgehalten hat, kann er heute nicht genau erklären: «Man funktioniert halt einfach irgendwie.» Seine Erfahrungen aus elf Jahren bei der Feuerwehr sind dabei bestimmt hilfreich. Besonders nahe gehen Laib die Schicksale älterer Menschen, bei denen die Versicherungsleistungen bei weitem nicht ausreichen, um die Schäden zu decken. Sie bitten die Einsatzkräfte, Gegenstände zu reinigen, da sie sie nicht ersetzen können.

19 Millionen Franken zahlt die Mobiliar Versicherung ihren Versicherten nach dem Unwetter aus. Insgesamt bearbeitete sie bis heute 2500 Schadenfälle. Die meisten von ihnen konnten sie bereits bis im Herbst 2017 erledigen. «Nur einzelne Fälle sind derzeit noch offen», sagt Raphael Arn, Generalagent der Agentur Zofingen. In seinem Garten spielt er an diesem Abend mit seinem Sohn Fussball, als sie vom Unwetter überrascht werden. Im letzten Moment können sie das Auto in den Unterstand stellen und vor dem Hagel retten. Sofort wird Arn klar: Das wird eine grössere Sache. Man beschliesst, die Generalagentur für die Kunden am Sonntag zu öffnen. Eine Geste, die sehr geschätzt wird. Die Angestellten packen sogar bei den Aufräumarbeiten bei ihren Kunden mit an. Im Gegenzug werden sie mit Dankeskarten und Znüni überhäuft. «Es waren wunderschöne Zeichen unserer Kunden», erinnert sich Arn ein Jahr später.

ZT-Medienhaus unter Wasser
Auch Bruno Giger, Vizekommandant der Zofinger Feuerwehr und Leiter der Haus- und Betriebstechnik im Haus der ZT Medien AG, macht sich auf den Weg ins Feuerwehrmagazin, nachdem der Alarm eingegangen ist. Nach einer Stunde kommt ein Anruf aus dem ZT-Medienhaus. Der Keller sei komplett überflutet. Das Wasser ist durch die überlastete Kanalisation aus den Toiletten übergelaufen. Giger bekommt das Einsatzgebiet rund um die Henzmannstrasse zugeteilt und kann sich so um «sein» Medienhaus kümmern. Als er das Druckereigebäude betritt, erschrickt er. Maschinen und das Papierlager stehen unter Wasser. «So etwas habe ich noch nie erlebt», erinnert er sich. Die Feuerwehr Brittnau beginnt mit dem Auspumpen der Wassermassen. Doch dies hätte böse enden können. Erst kurze Zeit später bemerkt man, dass die Räume noch unter Strom stehen. Feuerwehrkommandant Peter Ruch zog mit seinen Leuten die Lehren aus diesem Vorfall: «Den Sicherheitsaspekt bei unseren Einsätzen müssen wir zukünftig stärker gewichten.» Das Zofinger Tagblatt vom Montag muss noch auswärts gedruckt werden. Einen Tag später ist die hauseigene Druckmaschine bereits wieder einsatzfähig. Schon am Sonntagnachmittag, weniger als 24 Stunden nach dem Unwetter, wird im ZT-Newsroom wieder gearbeitet. Dies sei den Lieferanten und Elektrikern zu verdanken, welche bereit waren, am Sonntag Einsätze zu leisten, sagt Bruno Giger. Ein Jahr später sind rund 95 Prozent der Schäden im Medienhaus behoben. Man hat zur Vorbeugung Wasserrückhaltesysteme, wasserdichte Türen vor den Serverräumen und Wassermelder installiert. Die durchnässten Archivbücher des Zofinger Tagblatts lagern derzeit tiefgekühlt. Wenn man sie im Vakuum auftaut, werden sie wieder trocken sein.

Grosses Glück im Unglück
So hoch eine Schadenssumme in dreistelliger Millionenhöhe auch klingen mag, umso glücklicher und erstaunlicher scheint die Tatsache, dass es nach einem Ereignis von solchem Ausmass weder Tote noch Verletzte zu beklagen gab. Man habe einfach «Schwein gehabt», bilanzieren die meisten. Heinz Häfliger, Kommandant des Zivilschutzes der Region Zofingen, ist davon überzeugt, dass das Unwetter einen deutlich tragischeren Verlauf hätte nehmen können. Er verweist dabei auf die komplett zerstörte Militärunterkunft Rosengarten in Zofingen, welche glücklicherweise unbesetzt war. Nur eine Woche später hätten Jugendliche vom Basketballcamp in der Unterkunft gewohnt. «Ich kann nicht mit guten Gewissen sagen, dass sie es alle rechtzeitig aus dem Gebäude geschafft hätten», sagt Häfliger. Man habe bereits zum zweiten Mal bei einem Unwetter Glück im Unglück gehabt. Der Sturm im Jahr 2011 kam in der Nacht, sodass nur wenige Fahrzeuge auf den Strassen unterwegs waren.

Fragt man bei den Beteiligten nach, was bei der Bewältigung dieses Unwetter auf der Seite der Einsatzkräfte besonders gut funktioniert habe, wird fast einstimmig die gute Zusammenarbeit zwischen den Blaulichtorganisationen, dem Zivilschutz und dem Regionalen Führungsorgan genannt. Die Koordination sei gut gewesen. Die Strukturen hätten sich als tauglich erwiesen. Auch der Bottenwiler Gemeindeammann Heinz Gerber sieht das so. Enttäuscht ist er hingegen von der Zusammenarbeit mit den kantonalen Stellen, welche strukturierter hätte sein können. «Und auch vom Regierungsrat hätte ich mir etwas mehr Rückendeckung in Form von Präsenz erhofft», ergänzt er. Dass ein solches Ereignis auch Geschichten mit einem faden Beigeschmack hervorruft, ist fast unvermeidbar. Familien verlieren ihr Hab und Gut. Die Existenz kleiner Unternehmen steht auf dem Spiel. Bewohner können monatelang nicht in ihre Häuser zurückkehren. Und die Armee sollte eigentlich in Bottenwil die Hänge sichern, lässt aber bis Anfang 2018 auf sich warten. Zivilschutzkommandant Heinz Häfliger hat kurz nach dem Unwetter Probleme mit einigen Arbeitgebern, welche kein Verständnis dafür haben, dass ihre Angestellten für den Zivilschutz bei den Aufräumarbeiten helfen müssen. Einige drohen ihren Leuten gar mit der Kündigung. Häfliger entlässt ein paar Angehörige vorzeitig, um ihnen Ärger zu ersparen. «Doch das war natürlich unschön», erinnert er sich. Als Konsequenz darauf verteilt der Zivilschutz heute schon bei der Vororientierung ihren Angehörigen ein Merkblatt mit Rechten und Pflichten zu Händen der Arbeitgeber.

Illegale Kündigung?
Eine Woche nach dem Unwetter erfolgt ein Aufschrei in der Region. Ein Feuerwehrmann aus Uerkheim soll von seinem Arbeitgeber die Kündigung erhalten haben, nachdem er nach dem strengen Einsatzwochenende am Montag übermüdet zur Arbeit erschien und sich einen Tag freinehmen wollte, um seiner Familie beim Aufräumen zu helfen. «Diese Kündigung ist illegal!», meldet Radio Argovia in der Meinung, einen Riesenskandal aufgedeckt zu haben. Vielmehr ist es ein laues Lüftchen, das durch das Sommerloch weht. Es stellt sich heraus, dass sich der damals 21-Jährige noch in der Probezeit befand. Während eines vereinbarten Termins mit seinem Kommandanten und einem Tele-M1-Reporter versteckt er sich. Später räumt er an einem runden Tisch ein, dass die Kündigung nichts mit dem Unwetter zu tun hatte.

Schaut man sich ein Jahr nach dem Ereignis in der Region um, sind kaum mehr Spuren des Unwetters sichtbar. «Nur in den Landwirtschaftszonen der Stadt Zofingen gibt es vereinzelt noch Auswaschungen auf Strassen und Waldwegen», sagt Hans-Ruedi Hottiger. Die Stadt sei seit dem Unwetter laufend daran, abzuklären, bei welchen Gewässern zu wenig Kapazität vorhanden ist und wie man mit der Tatsache umgehen solle, dass in der Zukunft mit mehr Unwettern dieser Intensität gerechnet werden muss. Wenn Bottenwils Gemeindeammann Heinz Gerber am Sonntag von seinen Ferien zurückkehrt, wird er sich mit Sicherheit daran erinnern, was an diesem Tag vor genau einem Jahr passierte. «Das Ereignis ist noch präsent, wie wenn es gestern gewesen wäre. Wenn es gewittert, kommt alles wieder hoch.» Yvo Laib, Chef des RFO Suhrental-Uerkental, geht es genauso: «Ich hoffe einfach, dass es am Sonntag kein Gewitter gibt.» Und trotz aller Schreckensbilder gibt es sie trotzdem, die schönen Erinnerungen beim Zofinger Stadtammann Hans-Ruedi Hottiger: «Wenn man beobachtet, wie unsere Gesellschaft immer egoistischer wird, bin ich umso positiver überrascht von der Solidarität in der Zofinger Bevölkerung. Man ist bereit, einander zu helfen. In Zofingen hat man diesen Test mehr als nur bestanden – auch mental.»

Video untenSo erlebte ZT-Mitarbeiterin Jacqueline Gut aus Küngoldingen den verhängnisvollen Tag und die Tage danach. (Alle Videos und Bilder: Jacqueline Gut)