Ab wann ist Erziehung strafbar? Ehepaar vor Gericht, weil sie ihre Kinder mit einem Holzstock schlagen

Wieso sie diesen Mittwoch vor dem Bezirksgericht Lenzburg standen, das konnten die Eltern nicht nachvollziehen. Angeklagt wurde das togolesische Ehepaar, weil sie ihre Kinder mehrfach mit einem Stock auf die Hände geschlagen haben sollen. Dies, um die Kinder zu erziehen und in die richtige Bahn zu lenken.

Zur Anklage durch die Staatsanwaltschaft kam es durch einen Vorfall im Juli 2019. Die Eltern erwischten den damals 13-jährigen Sohn, wie er in seinem Zimmer einen Porno schaute. «Ungeniert hat er hinter unserem Rücken pornografische Inhalte konsumiert», bestätigte der Vater vor Gericht sichtlich empört.

Aus Angst meldete sich der Sohn bei der Kantonspolizei

Weil er fürchtete, der Vater könne wieder zum Stock greifen, flüchtete der Sohn von zu Hause und lief zur Kantonspolizei. Dort sagte er aus, dass er etwa einmal im Monat mit dem Stock fünf bis sechs Mal auf die Handinnenflächen geschlagen werde. Der Vater bestritt dies vor Gericht, er habe ihn lediglich einmal mit dem Stock gezüchtigt. Dies als der Sohn eine Unterschrift von ihm gefälscht habe, um eine schlechte Schulnote geheim zu halten.

Auch die Mutter soll ihre beiden ältesten Söhne mit besagtem Holzstock geschlagen haben, wenn sich diese ihrer Meinung nach falsch verhalten hatten. Sie bestritt, ihre Kinder je geschlagen zu haben.

In ihrem Heimatland ist die Erziehungsmethode geläufig

Die Familie lebt nach eigenen Aussagen in kritischen finanziellen Verhältnissen, monatlich haben sie für sich und die vier Kinder 4200 Franken zur Verfügung. Der Mann hat ausserdem 12’000 Franken Schulden. Das Ehepaar wurde beschuldigt, seine Kinder mehrmals geschlagen zu haben. Kommt es wiederholt zu Tätlichkeiten gegen Kinder, werden die Täter von Amtes wegen geahndet – auch wenn die Kinder keine sichtlichen Schäden davon tragen. Neben der Anklage kam es bei besagter Familie auch zu einer Meldung bei der Kinder- und Erwachsenenschutzbehörde (Kesb).

Die Eltern machten vor Gericht keinen Hehl daraus, dass sie körperliche Strafen als legitimes Erziehungsmittel erachten. Zum Vorfall mit der gefälschten Unterschrift sagte der Vater:

«Das hätte schwerwiegende Folgen haben können, als pflichtbewusste Eltern haben wir unseren Sohn bestraft.»

Im Togo sei die Erziehungsmethode mit dem Stock ausserdem geläufig. Auf die Frage, ob die Mutter den Stock als Kind selbst einmal zu spüren bekommen habe, sagte sie: «Nein, weil ich immer gehorcht habe.»

584 Kinder waren 2020 wegen Gewalt im Spital

Die Schweizer Bundesverfassung schreibt vor, dass Kinder ein Anrecht auf besonderen Schutz ihrer Unversehrtheit haben. Ein ausdrückliches Züchtigungsrecht existiert seit 1978 nicht mehr. Körperliche Strafen mit gesundheitlichen Schäden und wiederholte Züchtigung ohne Schäden müssen von der Staatsanwaltschaft verfolgt werden. Andererseits existiert kein Verbot von einmaligen Körperstrafen, die nicht zu sichtbaren Schäden führen. Verschiedene Vorstösse versuchten schon die körperliche Züchtigung in der Erziehung explizit zu verbieten. Bis jetzt ohne Erfolg.

«Das Anwenden von körperlicher Gewalt als Erziehungsinstrument ist immer noch weit verbreitet», heisst es in der nationalen Kinderschutzstatistik 2020 von der Fachgruppe Kinderschutz der Schweizerischen Kinderkliniken. Im letzten Jahr kamen 584 Kinder wegen einer körperlichen Misshandlung ins Spital. Viel Fälle werden allerdings gar nie gemeldet.

Ob eine Ohrfeige als Bestrafung akzeptabel ist oder schon als Misshandlung gilt, da scheiden sich die Geister. Für die Kinderschutzgruppe am Kantonsspital Baden wird es dann heikel, wenn wiederholt zu körperlicher Züchtigung gegriffen wird oder wenn Hilfsmittel, wie im aktuellen Gerichtsfall der Stock, eingesetzt werden.

Die Eltern wollten den Strafbefehl nicht akzeptieren

Dass ein solcher Fall von häuslicher Gewalt wie bei der togolesischen Familie vor Gericht kommt, sei eher selten, sagte der Gerichtspräsident Daniel Aeschbach nach der Verhandlung. Auch Markus Wopmann Facharzt für Kinder-und Jugendmedizin am Kantonsspital Baden sagt, dass es eher zu einer Anklage komme, wenn es sich um einen externen Täter handelt, etwa einen Lehrer. Die Hemmschwelle, eine Person aus der engen Familie anzuzeigen, sei hingegen grösser.

Im Fall, der vor dem Bezirksgericht Lenzburg behandelt wurde, befanden sich die Kinder ihren Eltern gegenüber in einem grossen Loyalitätskonflikt. Aus diesem Grund wurde ein Anwalt eingeschaltet, der sie vertrat.

Eigentlich stellte die Staatsanwaltschaft einen Strafbefehl gegen die Eltern aus. Demnach hätten sie je eine Busse von etwas mehr als 1000 Franken zahlen müssen. Weil sie die Busse nicht akzeptierten, kam der Fall überhaupt erst vor Gericht. Der Mann wurde am Mittwoch wegen mehrfacher Tätlichkeit zu einer Busse von 600 Franken verurteilt, die Frau wegen einmaligem Vorfall zu einer Busse von 200 Franken. Die Gerichts- und Anklagekosten von rund 3500 Franken müssen sie selbst bezahlen.

«Bei körperlicher Gewalt gibt es eine klare Schichtenabhängigkeit»

Kinderarzt Markus Wopmann.

Kinderarzt Markus Wopmann.

Bild: Anthony Anex/Keystone

Markus Wopmann ist Facharzt für Kinder-und Jugendmedizin am Kantonsspital Baden (KSB). Lange Zeit leitete er die Kinderschutzgruppe am KSB. Im Gespräch mit der AZ erklärt er, wieso Gewalt in der Erziehung nichts bringt.

Herr Wopmann, was halten Sie von körperlichen Strafen als Erziehungsmethode?

Markus Wopmann: Es ist ein untaugliches Erziehungsmittel. Die Kinder verhalten sich nicht besser, weil sie von den Eltern mit Schlägen bestraft werden. Hinzu kommt, dass sich die Wirkung abstumpft: Die Kinder gewöhnen sich daran und man muss immer fester schlagen, um den gleichen Effekt zu erzielen. Ausserdem ist es verboten, seine Kinder zu schlagen, es verletzt die Fürsorgepflicht der Eltern.

Wieso schlagen Eltern ihr Kind?

Gewalt gegen Kinder ist in den meisten Fällen ein Ausdruck von Überforderung. Es ist eine hilflose Form der Erziehung. Die wenigsten Eltern schlagen ihre Kinder, um sie zu quälen.

Viele Kinder haben schon einmal eine Backpfeife bekommen. Wo liegt die Grenze zur Misshandlung?

Da scheiden sich die Geister. An der Kinderklinik in Baden klassieren wir eine einmalige körperliche Bestrafung, die nicht sehr intensiv ist, nicht als Kindsmisshandlung. Wiederholt sich die Gewalt, wird das schwerer eingestuft. Schwerwiegender wird es auch, wenn Instrumente wie Gürtel oder Stöcke zum Einsatz kommen: Wenn man zum Stock greift, dann braucht das eine gewisse Überlegung, und kann nicht als reine Affekthandlung betrachtet werden.

Ist körperliche Gewalt ein Erziehungsmittel, das sich durch die gesamte Gesellschaft zieht, oder sind finanziell schlechter gestellte Familien häufiger betroffen?

Es gibt bei körperlicher Gewalt eine klare Schichtenabhängigkeit. Sozial schwache Familien leben oft mit stärkeren Belastungen. Ausserdem haben diese Eltern häufig weniger differenzierte Mittel zur Konfliktbewältigung als sozial besser gestellte. In gewissen Kulturen, etwa im asiatischen Raum, hat die körperliche Erziehung auch eine viel grössere Legitimation.