Abnehmender Impfschutz: Stehen wir vor dem Impf-Herbst? Die wichtigsten Fragen und Antworten

1. Warum kündigt Moderna gerade jetzt an, es könnte eine dritte Impfdosis nötig sein?

Moderna gab im Rahmen ihrer Dreivierteljahreszahlen eine «Empfehlung» ab. Man solle sich «vor dem Winter» mit einer dritten Dosis vor dem Virus schützen. Drei Gründe wurden dafür angegeben: (1) Die Antikörperkonzentration (der sogenannte «Titer») im Blut nimmt mit der Zeit ab. (2) Das Ansteckungsrisiko sei grösser geworden durch neue Virusmutanten (Delta). (3) Die Menschen halten sich mehr in Innenräumen auf, das erhöht die Anzahl der Kontakte und damit die Wahrscheinlichkeit, sich anzustecken.

  1. Abnehmende Antikörperkonzentration: Das ist nicht überraschend. Bisher hat noch kein humanes Coronavirus (neben MERS, Sars-1 und Sars-2 gibt es noch vier andere) eine dauerhafte Antikörperimmunität hervorgerufen. Die Dauer der Immunität schwankt zwischen 2 und 6 Monaten. 
  2. Neue Virusmutationen wie Delta: Neue Mutationen des Sars-CoV-2 unterscheiden sich durch ein leicht verändertes Spike-Protein auf. Eine erfolgreiche Mutation fällt auf, weil sie sich gegen die anderen Varianten durchsetzt. Das kann sein, weil sie besser an die menschliche Zelle angepasst ist und leichter hineinkommt oder weil sie den bestehenden Antikörpern ausweichen kann – oder beides. Eine dritte, sogenannte Booster-Impfung kann die Konzentration der Antikörper wieder erhöhen (mit dem bisherigen Impfstoff) oder die Antikörper durch eine Verbesserung der mRNA-Formel den veränderten Spike-Proteinen anpassen (das wäre ein verbesserter Impfstoff).
  3. Ansteckungswahrscheinlichkeit: Das Ansteckungsrisiko ist stark von zwei Faktoren bestimmt: Zahl der Kontakte und Ansteckungswahrscheinlichkeit. Die hängt nicht nur von der Infektiosität des Virus ab, sondern ist in Innenräumen, besonders in schlecht gelüfteten, wo sich Aerosole ansammeln können, natürlich grösser.

2. Warum gibt Moderna gerade jetzt die Empfehlung ab?

Der Verdacht liegt nahe, dass der Konzern die Situation «vor dem Winter» ausnützen will, um noch mehr Impfstoff absetzen zu können. Und auch Pfizer/BioNTech haben eingeräumt, dass die Wirksamkeit ihres Impfstoffs nachgelassen habe. Andererseits sind die Gründe nicht von der Hand zu weisen (auch das «Winter»-Argument nicht). Weil die Impfaktionen im Frühling begonnen haben, dürfte auch die Zahl jener, welche die Impfung schon sechs Monate hinter sich haben, gewachsen sein. Im Moment prüft Moderna drei Kampagnen-Varianten jeweils mit Dosen von 50 und 100 Mikrogramm (die bisherige Dosierung war 100 Mikrogramm Impfstoff): 1) eine dritte Spitze mit mRNA-1273 (das ist der bisher verwendete Impfstoff). 2) ein an die Mutanten angepasster Impfstoff (mRNA-1273.351 für Beta und mRNA-1273.617 für Delta). 3) ein multivalenter kombinierter Impfstoff mRNA-1273.211 und mRNA-1273.213 (gegen Beta- und Delta-Mutante).

3. Was kostet eine Dosis eines mRNA-Impfstoffs?

Die Impfstoffe, die auf mRNA-Technologie setzen, haben sich als effizienter herausgestellt als die Vektorimpfstoffe und konventionellen Impfstoffe. Die Financial Times meldete, dass die Produzenten Pfizer/BioNTech und Moderna gegenüber der EU eine Preiserhöhung ausgehandelt hätten. Für eine Dosis des Impfstoffs von Pfizer/BioNTech bezahlt die EU jetzt 19.50 Euro (statt 15.50 Euro). Eine Dosis des Moderna-Impfstoffs soll neu 21.50 Euro kosten (statt 19 Euro). Wie viel die Schweiz bezahlt, ist nicht bekannt. Eine Dosis des Impfstoffs von Johnson&Johnson soll 8.50 Dollar kosten, eine Dosis von AstraZeneca 2.50 Euro.

4. Was sagt das BAG zu der Notwendigkeit von Booster-Impfungen?

Bisher ging das BAG von einer Schutzdauer der Impfungen von 12 Monaten aus. Man nehme die Empfehlung von Moderna «zur Kenntnis», hiess es am Donnerstag. Beim gegenwärtigen Informationsstand seien keine Auffrischungskampagnen für den Herbst vorgesehen. Impf-Chef Christoph Berger hält die Datenlage für noch zu unsicher; Virginie Masserey, Leiterin Sektion Infektionskontrolle beim BAG, räumte ein, man wäre bereit für eine dritte Impfung, wenn es nötig wäre. Bisher sei das aber nicht der Fall.

5. Welche Länder planen schon Kampagnen für eine dritte Impfung?

Israel hat schon mit der Kampagne begonnen und will alle Über-60-Jährigen ein drittes Mal impfen. Die Vereinigten Arabischen Emirate und Bahrain haben bisher Sinopharm verimpft, bieten jetzt ihrer Bevölkerung einen dritten Shot eines mRNA-Impfstoffs an. Deutschland und Grossbritannien wollen im September anfangen, ihre Risikogruppen (Menschen in Heimen und Ältere) zum dritten Mal zu impfen. Dabei soll nur mRNA-Impfstoff verwendet werden. In der Schweiz werden Menschen, welche keine wirksame Antikörperkonzentration aufbauen konnten (besonders nach Operationen Immunsupprimierte), bereits jetzt eine dritte Dosis erhalten.

6. Müssten veränderte Impfstoffe erneut zugelassen werden?

Swissmedic teilt auf Anfrage mit: Eine dritte Impfung würde als eine Änderung einer bereits bestehenden Impfstoffzulassung behandelt. Diese muss zugelassen werden, wobei die entsprechenden Unterlagen einzureichen sind. Als vergleichbares Beispiel kann man die Erweiterung der bestehende Zulassung für Kinder ab 12 Jahre ansehen. Ein veränderte Booster-Impfstoff muss nicht das ganze Zulassungsprozedere durchlaufen. Wenn keine Änderungen bei der Herstellung des Produkts und der Qualität des Produktes gemacht wurden, müssen solche Unterlagen nicht eingereicht werden. Dagegen werden klinischen Daten nötig, welche die Sicherheit sowie die Wirksamkeit dieser Anwendung belegen können. Eine spezielle Phase-III-Studie wird nicht notwendig, es werden jedoch Daten erwartet zum Beispiel für die Immunogenität, das heisst, die Art und Weise, wie der Impfstoff das Immunsystem zu einer Reaktion provoziert.

7. Weiss man etwas über Nebenwirkungen der neuen Impfstoffe?

Bisher sei nichts aufgetaucht, was gegenüber der bisherigen Impfpraxis neu wäre, teilen die Pharmafirmen mit.

8. Was geschieht mit den Überbeständen an alten Impfstoffen, wenn neue auf den Markt kommen?

In Deutschland wurden bereits Tausende abgelaufener Dosen vernichtet. Überzählige, noch verwendbare Dosis können an den Bund zurückgegeben werden. Und der gibt sie an die Covax-Initiative weiter. Das betrifft vor allem AstraZeneca-Impfstoff. Die Schweiz hat den auch bestellt, er ist aber hier noch nicht zugelassen. Impfstoff würde keiner vernichtet, wird mitgeteilt. Via Covax könnte er an Länder weitergegeben werden, wo er zugelassen ist. Die WHO rät sowieso, von Kampagnen für Drittimpfungen abzusehen, bevor nicht der Impfrückstand in allen Ländern aufgeholt sei. Die Unterschiede sind gross: Auf 87 Spritzen auf 100 Leute in Europa kommen in Afrika 5 auf 100 Leute.