Advent – Und der Geduldsfaden reisst nicht

Wie lange noch? Können wir Weihnachten gemeinsam feiern, oder wird das Fest dieses Jahr einsamer und stiller als sonst? Hält unser Geduldsfaden oder droht er zu reissen?

Warten müssen kann sehr schwer sein. Dass wir so wenig planen und organisieren können, ist für viele am belastendsten. Geduld muss geübt werden, Ausdauer braucht Kraft, und Hoffnung versteht sich nicht von selbst.

Der Advent war immer schon eine Zeit des Wartens, der gespannten Hoffnung, vielleicht auch der enttäuschten Erwartungen. Dieser Advent stellt unsere Geduldsfäden auf eine besondere Probe. Immer schon brauchten diejenigen den stärksten Geduldsfaden, die an der Hoffnung für die Zukunft festhielten.

Der evangelisch-lutherische Theologe und Erzieher Johann Heinrich Wichern (1808–1881) hat sich zu Beginn des 19. Jahrhunderts um die armen, verwahrlosten Strassenkinder und Jugendlichen in Hamburg gekümmert. Diejenigen, die vom menschen­verachtenden Kapitalismus des beginnenden Industriezeitalters unter die Räder zu kommen drohten, bekamen in dem von ihm gegründeten sogenannten «Rauhen Haus» ein Obdach, ein Zuhause und Bildung.

Die Kinder erwarteten zunächst gar nichts. Erst als ihnen Wichern von Weihnachten erzählte und vom Christfest schwärmte, brauchten sie plötzlich Geduld und konnten kaum noch zuwarten, bis es endlich Heiligabend würde. Um ihre Geduldsfäden zu stärken, hat Wichern 1839 den bis heute beliebten Adventskranz erfunden. Es war kein Kranz, wie wir ihn heute kennen, sondern ein Wagenrad mit vier grossen weissen Kerzen und 20 kleineren roten. Die grossen Kerzen standen schon damals für die vier Adventssonntage, die kleinen für die Wochentage ab dem Ersten Advent bis Heiligabend. Letztere variieren in der Anzahl von Jahr zu Jahr je nachdem, auf welchen Sonntag der Erste Advent fällt. Minimal sind es 18, wenn der Heiligabend mit dem vierten Adventssonntag zusammenfällt, maximal 24, wenn Heiligabend auf einen Samstag fällt.

Das grosse Wagenrad wurde von Wichern im Betsaal des «Rauhen Hauses» aufgehängt. Ein kleiner Nebeneffekt war dabei, dass die Kinder noch die Zahlen lernten. Später ging man mit den Kerzen und dem Aufwand der Dekoration eines Wagenrades etwas sparsamer um. Der viel kleinere Adventskranz mit lediglich vier Kerzen für die vier Adventssonntage hat sich weit verbreitet. Seit 1860 wurde er aus Tannenzweigen angefertigt. Auch die Katholiken in Deutschland übernahmen die Tradition mit den Jahren sehr gerne. Im Jahre 1925 wurde erstmals in einer katholischen Kirche, im Kölner Dom, ein Adventskranz aufgestellt.

Verschiedene Deutungen verbinden den Adventskranz mit der christlichen Hoffnung. Die Zunahme des Lichts weist auf die Erwartung der Geburt Jesu Christi hin, der im christlichen Glauben als das Licht der Welt bezeugt wird. Der Kreis symbolisiert die mit der Auferstehung Jesu angebrochene Ewigkeit Gottes. Das Grün der Tannenzweige verweist auf die Hoffnung, das Rot der Kerzen auf die Liebe und Hingabe Jesu. 

Die katholischen Iren stellen zu den vier Kerzen der Adventssonntage zusätzlich noch eine grosse weisse Kerze in die Mitte. Sie wird an Heiligabend entzündet, wenn sich das Warten erfüllt und die Geburt Jesu Christi, die Mitte des christlichen Glaubens, gefeiert wird.

Der Adventskranz lehrt, Geduld zu üben in dunklen Zeiten. An jedem Tag eine kleine Kerze anzünden bedeutet: Jeder Tag hat sein Licht, an jedem Tag gibt es Hoffnung und Zuversicht. Wenn das Vorausplanen schwerfällt und kein Ende der Pandemie absehbar ist, dann hilft der Adventskranz. Statt über Masken und kleine Einschränkungen zu jammern, entzünden wir an jedem Tag einen guten Gedanken, eine Freude, ein Licht der Hoffnung und – das ist das Schöne am Kerzenlicht – geben es anderen weiter. Damit wird das Licht nicht weniger, sondern mehr. Geteiltes Licht ist doppeltes Licht, und geteilte Freude ist doppelte Freude.

Unser Geduldsfaden ist nicht immer gleich stark und gleich dick. In diesem Jahr ist er wohl eher dünner, hoffentlich dafür aber länger.

Der Liederdichter Jochen Klepper (1903–1942) hat mitten in der düstersten Kriegsepoche der europäischen Geschichte ein Adventsgedicht geschrieben, das dieser geduldigen Hoffnung Ausdruck gibt:

«Die Nacht ist vorgedrungen
Der Tag ist nicht mehr fern.
So sei nun Lob gesungen
Dem schönen Morgenstern.
Auch wer zur Nacht geweinet,
der stimme froh mit ein.
Der Morgenstern bescheint
Auch deine Angst und Pein.»

 

Rudolf Gebhard ist Pfarrer der reformierten Kirchgemeinde Zofingen