
Alles noch schlimmer als gedacht: Die Chefs haben jahrelang weggeschaut
Wenn es einen Satz gibt, der die Ereignisse schön zusammenfasst, dann diesen: Es ist alles noch schlimmer als gedacht. Die Schweizerische Post steckt in ihrer grössten Krise. Bundesrätin Doris Leuthard spricht von «unentschuldbaren Machenschaften». Seit Februar ist bekannt, dass die Tochter Postauto AG jahrelang Gewinne verschleierte und so ungerechtfertigt Subventionen in Millionenhöhe kassiert hat.
Am Montag nun hat die Post einen externen Untersuchungsbericht und ein Expertengutachten veröffentlicht. Die effektiven Gewinne für den regionalen Personenverkehr fielen um 90,9 Millionen Franken höher aus als für die Jahre 2007 bis 2015 ausgewiesen. Wie ein Puzzle musste Detail um Detail zusammengesetzt werden, um am Ende ein Bild zu bekommen, das selbst Post-Verwaltungsratschef Urs Schwaller erstaunen liess: «Ich bin erschüttert, mit welcher Energie bei Postauto die Buchhaltung manipuliert worden ist.
Die Konsequenzen sind tiefgreifend. Konzernchefin Susanne Ruoff musste gehen, ebenso die gesamte Geschäftsleitung der Postauto AG. Und auch Post-Vizepräsident Adriano Vassalli wird seinen Hut nehmen.
Die geschasste Chefin
Die erste Bombe platzte am vergangenen Sonntagabend: Konzernchefin Ruoff liess mitteilen, dass sie per sofort zurücktrete. Ihren Entscheid habe sie bereits dem Verwaltungsrat mitgeteilt, hiess es in einem Communiqué, das eine PR-Agentur im Namen Ruoffs verschickte. Nach Einsicht in die Untersuchungsberichte habe sie feststellen müssen, dass es für die widerrechtliche Buchungspraxis bei Postauto «gewisse Hinweise» gegeben habe.
Mit ihrem Rücktritt ist Ruoff einem Rauswurf zuvorgekommen, wie sich am Montag herausstellte. Der Verwaltungsrat beschied ihr vergangene Woche, dass die «notwendige Vertrauensbasis» nicht mehr vorhanden sei. Ruoff wolle sich öffentlich vorerst nicht mehr zu dem Thema äussern, erklärte die von ihr beauftragte PR-Beraterin Christine Maier auf Anfrage. Präsident Schwaller bezeichnete es als «schade», dass Ruoff ihren Rücktritt vorab über einen «privaten Kanal» bekanntmachte, zeigte aber Verständnis dafür. Er betonte: Es gebe keinen goldenen Fallschirm für Ruoff – und auch nicht für die anderen geschassten Kader.
Das Betrugssystem
Fehlende Kontrollmechanismen? Bestimmt. Eine ungeeignete Organisation? Auch. Doch der Hauptgrund dafür, dass der Skandal überhaupt möglich wurde, ist «kollektives menschliches Versagen». So zumindest bezeichnen es die beauftragten Rechtsexperten in ihrem Gutachten. Die unrechtmässigen Buchungen seien «einem Personenkreis von beträchtlicher Grösse» bekannt gewesen. Trotzdem betonen die Experten: Rechtfertigen lasse sich das Ausmass der Verfehlungen damit nicht.
Eine Vielzahl an Dokumenten, die eine Anwaltskanzlei ausgewertet hat, zeichnet ein klares Bild: Gewinne aus der subventionierten Sparte «Regionaler» Personenverkehr» wurden systematisch in die Sparte «Übriges» umgebucht. Bei 200 000 Buchungen in den Jahren 2007 bis 2015 wurden höhere Kosten verbucht; etwa für Reifen, die gar nie gekauft worden sind. Wann die Manipulationen anfingen, lässt sich anhand der publizierten Berichte nicht genau nachvollziehen. Schwaller sagte, die Tricksereien hätten wohl schon vor der Jahrtausendwende angefangen.
Die Schuldigen
Wer die unrechtmässige Buchungspraxis erfunden hat, lasse sich ebenfalls nicht sagen, erklärte Schwaller. Klar ist: Es wussten viele Personen Bescheid darüber. So wurden zum Beispiel in einem Entwurf eines internen Revisionsberichts die «strategischen Umbuchungen» erwähnt – mit dem warnenden Hinweis: «Es besteht ein massgebliches Risiko, würde der Regulator von diesem Vorgehen erfahren.» Wer genau wie stark verantwortlich ist, lässt sich schwer nachvollziehen, da verschiedene Passagen im öffentlichen Bericht fehlen. Im Fokus steht die Postauto-Geschäftsleitung, allen voran der ehemalige, bereits im Februar geschasste Postauto-Chef Daniel Landolf. Kenntnis von der illegalen Buchungspraxis – oder zumindest Hinweise darauf – hatten jedoch auch andere Verantwortungsträger im Postkonzern.
Dem heutigen Verwaltungsratspräsidenten Urs Schwaller sprach Leuthard das Vertrauen aus. Eine mögliche Pflichtverletzung sieht sie hingegen bei Schwallers Vorgänger Peter Hasler. Dieser erklärte am Montag, er habe keine Infos dazu erhalten, was seine «Mitverantwortung» betreffen soll – und auch keine Stellung nehmen können. «Umso seltsamer ist, dass die Bundesrätin gleichwohl eine verurteilende Bemerkung macht.»
So reagiert die Post
Neben der Entlassung der Postauto-Geschäftsleitung trifft die Post weitere Massnahmen. Sie wird unter anderem die Revisionsgesellschaft KPMG auswechseln. Zudem wird eine Reorganisation rückgängig gemacht: Die 2016 eingeführte Holdingstruktur namens Impresa soll durch eine transparente Organisationsform ersetzt werden, verspricht Schwaller. Der Post-Verwaltungsrat behält sich rechtliche Schritte vor. Infrage kommen unter anderem Schadenersatzklagen. Ebenfalls geprüft wird, ob Postauto sich aus Frankreich zurückziehen soll.
Das macht der Bundesrat
Nicht nur die Post, sondern auch andere Bundesbetriebe machten in letzter Zeit negative Schlagzeilen – so etwa der Rüstungskonzern Ruag wegen einer Cyber-Attacke. Die Kontrolle über die bundesnahen Betriebe müsse verbessert werden, sagte Verkehrsministerin Leuthard. Wegen des Postauto-Skandals will der Bundesrat zudem das Bundesamt für Verkehr näher unter die Lupe nehmen: Eine externe Firma soll die subventionsrechtlichen Prüfungen der Behörde untersuchen.
Einen Denkzettel erhält auch der Post-Verwaltungsrat: Der Bundesrat wird ihm keine vollumfängliche Décharge erteilen. Zudem ermittelt das Bundesamt für Polizei (Fedpol). Es analysiert derzeit Dokumente und befragt Auskunftspersonen. «Die Ermittlungsarbeit ist in vollem Gange», sagte Sprecherin Cathy Maret. Bis Resultate vorliegen, dürfte es aber noch Monate dauern.
Die Reaktionen der Politik
Politiker von links bis rechts begrüssen das Vorgehen der Post-Exekutive. «Der Verwaltungsrat hat alles auf den Tisch gelegt», sagte FDP-Nationalrat Thierry Burkart. Nun gehe es darum, dass alle, «die an den Machenschaften beteiligt waren, davon Kenntnis hatten oder davon hätten Kenntnis haben sollen, zur Rechenschaft gezogen werden». CVP-Nationalrätin Viola Amherd sprach von einem «schwerwiegenden Fall» und fragte: «Stimmt die Balance zwischen Gewinn und Service public nicht?» Das müsse die Politik klären.
Ähnlich tönte es bei SP-Nationalrat Thomas Hardegger, für den der Bundesrat mit in der Verantwortung steht. Er habe die Post «dazu verleitet, den Unternehmenswert zu steigern und damit höhere Abgeltungen an den Bund zu ermöglichen». Scharfe Kritik kam von SVP-Nationalrat Walter Wobmann. Er sagte, der Verwaltungsrat habe seine Führung schlicht nicht wahrgenommen. Darum sei es nur folgerichtig, dass der Bundesrat nicht die volle Décharge erteilen wolle.