
Alt Gemeindepräsident Beat Rüetschi: «Suhr sollte jetzt aus dem Zukunftsraum aussteigen»
Er war 20 Jahre lang Gemeindepräsident von Suhr (bis Ende 2017), sass von 2006 bis 2015 für die FDP im Grossen Rat, ist heute noch Präsident des Gemeindeverbands Pflegeheim Lindenfeld: Beat Rüetschi, 68, kennt die Region Aarau aus dem Effeff.
Sie waren bei den Anfängen des Zukunftsraums dabei: War das Fusionsprojekt gut aufgegleist?
Beat Rüetschi: In meiner Amtszeit gab es vier solche Projekte. Der Zukunftsraum ist das fairste; aufgebaut auf partnerschaftlicher Ebene. Deshalb hat Suhr auch mitgemacht. Es war immer klar, dass man zwei Varianten verfolgt: die interkommunale Zusammenarbeit und die Fusion. Damit der Bürger weiss, worüber er abstimmt. Was jetzt mit der Broschüre vorliegt, ist eine Fusionsvorlage. Die Gegenüberstellung mit der verstärkten Zusammenarbeit fehlt nahezu ganz.
Fühlen Sie sich übers Ohr gehauen?
Das ist etwas stark ausgedrückt. Aber die Projektleitung hat Vorgaben nicht eingehalten und Einwände überhört. Das Fehlen der Gegenüberstellung führt nun genau zu den emotionalen Diskussionen, die man eigentlich immer hatte verhindern wollen. Der Bürger kann nicht vergleichen, was er verliert und was er gewinnt. Jetzt reduziert man den Entscheid auf den Steuerfuss und das ist nicht gut.
Das Argument mit den 97 Prozent ist doch bestechend.
Genau, deshalb wird es jetzt auch so in den Vordergrund geschoben. Aber bei den vorgängigen Diskussionen war klar – das hat Stadtpräsident Hanspeter Hilfiker auch so gesagt –, dass Aarau den Steuerfuss auf 94 Prozent senken müsste. Jetzt sammelt Aarau drei Prozent Steuern auf Vorrat. Das ist zwar saubere Finanzpolitik. Aber gegenüber dem Aarauer Steuerzahler ist es aus meiner Sicht nicht korrekt.
Halten Sie die 97 Prozent für das Jahr 2026 für realistisch?
Ich wäre froh um eine Kristallkugel, wie die Aarauer sie zu haben glauben. Per 1. Januar 2026 einen Steuerfuss von 97 Prozent zu definieren – vor Corona –, ist stark. Hilfiker lehnt sich sehr weit aus dem Fenster. Der effektive Steuerfuss wird mit dem Budget 2026 geregelt.
Sie halten sie also für unrealistisch?
Nein, das sage ich nicht. Aber wenn es dereinst dem Aarauer Vermögen abgehen sollte, wird die Bevölkerung rebellieren.
Fühlen sich die Aarauer Politiker zu sicher?
Ja, das denke ich. Warum beispielsweise die Aarauer Bürger die Broschüre im Gegensatz zu den Bewohnern von Suhr, den beiden Entfelden und Densbüren, nicht erhalten haben, finde ich etwas fragwürdig.
Der Gemeinderat sagt: «Für Suhr besteht keine Notwendigkeit zu fusionieren.» Sie teilen diese Meinung?
Ja. Suhr hat seine Hausaufgaben gemacht. Die Schulraum- und Verwaltungsplanung sind abgeschlossen, die Infrastrukturen sind auf gutem Stand genauso wie die Quartierentwicklung, die Zonenplanung ist auch durch. Wir sind sehr fortschrittlich im Vergleich mit anderen Gemeinden. Würden wir fusionieren, würden unsere Einwohner für die anderen zahlen müssen.
Es wäre also einfacher für Suhr, sich autonom weiterzuentwickeln.
Dieser Meinung bin ich. Wobei die verstärkte Zusammenarbeit keine schlechte Sache wäre.
Ist das Ihr Hauptargument gegen die Fusion? Suhr als Verliererin, weil sie die Hausaufgaben gemacht hat?
Ja. Und wir würden die direkte Demokratie verlieren, die Gemeindeversammlung. Der Einwohnerrat wird von der Parteipolitik bestimmt.
Die Gemeindeversammlung, die von drei bis fünf Prozent der Bevölkerung besucht wird.
Richtig, aber trotzdem kann jeder hin und seine Meinung äussern. Das ist beim Einwohnerrat nicht möglich.
Weitere Argumente?
Der Entscheid ist irreversibel. Ist der Fusionsweg einmal eingeschlagen, gibt es kein Zurück mehr. Ich habe noch kein überzeugendes Argument gehört, weshalb wir fusionieren sollten.
Der Verlust der direkten Demokratie würde nur einen Bruchteil der Suhrer betreffen. Was ist mit den anderen, die nie eine Gmeind besuchen? Was verlieren sie?
Die emotionale Bindung mit der Nachbarschaft. Das haben wir in Suhr frisch aufgebaut mit der Quartierentwicklung. Und das Bedürfnis dafür ist da, nicht nur bei den älteren Generationen.
Aber jedes Quartier bleibt so, wie es ist, mit Zukunftsraum oder ohne.
Da bin ich anderer Meinung. Man engagiert sich eher in einem Quartier, wenn man in einer übersichtlichen Gemeinde lebt, in der etwas läuft. Wir konnten viele Suhrerinnen und Suhrer mit der Quartierentwicklung mobilisieren; das würde mit dem Zukunftsraum fehlen. Wir pflegen in Suhr grundsätzlich eine grosse Nähe zueinander, auch zwischen Bürger und Behörden, mit möglichst kurzen Wegen. Dies können die Stadtteilkommissionen nicht ersetzen. Wir haben eine gute, effiziente Verwaltung, die wir verlieren beziehungsweise durch das Sozial- und Gesundheitswesen ersetzt bekommen würden. Die Wege würden länger. Aller Informatik zum Trotz; es läuft halt immer noch viel über zwischenmenschliche Beziehungen.
Nochmals zurück zu den Steuern. Aus Sicht eines weniger eingefleischten Suhrers sind tiefere Steuern doch durchaus ein Argument.
Die Reduktion betrifft nur die Gemeindesteuern. Für einen durchschnittlichen Suhrer mit einem steuerbaren Einkommen von rund 50’000 Franken wäre die Reduktion 273 Franken, für eine Familie rund 150 Franken. Das ist eine Differenz, aber man darf die Gebühren nicht vergessen, die Aarau hat. Wir haben beispielsweise keine Grundgebühren bei Werkstoff- und Sonderabfällen, keine Kanalisationsgrundgebühren und eine deutlich günstigere Grüngutabfuhr. Das findet sich zwar alles irgendwo verzettelt im Bericht, wird aber nicht explizit ausgewiesen. Das beanstande ich. Heute weiss man noch nicht, wie die Gebührenreglemente umgesetzt werden. Auch konnte mir bislang noch niemand sagen, was mit der TBS passiert.
Aus Ihrer Sicht ist also klar: Nein zur Fusion.
Unbedingt. Suhr sollte jetzt aussteigen. Und auf die verstärkte Zusammenarbeit setzen, da hat man das Potenzial noch nicht ausgeschöpft.
Warum setzt sich die Polit-Elite so stark für den Zukunftsraum ein?
Ich bin mir nicht sicher, ob dem tatsächlich so ist.
Sehen Sie es als Vorteil, dass an der Urne entschieden wird?
Die Stimmbeteiligung wird sicher hoch sein. Aber es fehlt die Diskussion.
Wagen Sie eine Prognose für den Suhrer Entscheid?
50:50. Wer besser mobilisieren kann, gewinnt.