Augen zu und Sinne auf: Das Wesentliche ist unsichtbar

Meine Arbeitskollegen auf Zeit in der Bürstenmacherei, Hans Kunz (links) und Frank Hunziker. (tiz)
Meine Arbeitskollegen auf Zeit in der Bürstenmacherei, Hans Kunz (links) und Frank Hunziker. (tiz)

Wie fühlt es sich an, blind zu sein? Schon einige Male habe ich daheim versucht, mich im Dunkeln zu orientieren. Meine Tests endeten mit angeschlagenen Zehen und blauen Flecken sowie mit vielen unbeantworteten Fragen. Wie ist es wohl, alles zu ertasten, zu erfragen und auf Hilfe von anderen angewiesen zu sein? Wäre ich in der Lage, meine anderen Sinne zu schärfen? Mir ist klar, dass mit kurzzeitigem Schliessen meiner Augen Blindheit oder eine Sehbehinderung nicht wirklich nachzuempfinden ist. Deswegen will ich erfahren, welche Hürden blinde Menschen täglich bewältigen und mache einen Selbstversuch in der Rothrister Arbeits- und Wohngemeinschaft Borna.

1931 hat Walter Stutz die Institution mit 15 Plätzen in Boningen gegründet. Seit 41 Jahren ist die Genossenschaft in Rothrist. Hier leben 83 intern Betreute und jeden Morgen kommen 70 Externe zur Arbeit. Um sie kümmern sich 72 Betreuer, davon 8 Praktikanten und 12 Auszubildende als Fachfrau/-mann Betreuung, Sozialpädagogen und Arbeitsagogen. Zum Betreuerteam gehört Ursula Winter. Seit 35 Jahren unterstützt die Lehrerin für Orientierung und Mobilität in der Borna sehbehinderte, blinde und taubblinde Menschen, sich im Alltag zurechtzufinden. «Manche sind von Geburt an blind, andere verlieren allmählich ihre Sehkraft und es gibt auch Menschen, die nach einem Unfall wie einem Sturz, einer Hirnblutung, einem Augeninfarkt oder sonstiger Erkrankung nichts mehr oder nur noch wenig sehen», sagt Ursula Winter. Sie ist meine Begleiterin auf Zeit.

Lehrerin Ursula Winter ist eine achtsame Begleiterin

Meinen Morgen mit Aufstehen, Duschen, Anziehen, Frühstücken und dem Auto zur Borna fahren habe ich noch sehend bewältigt. Eineinhalb Stunden später ist es plötzlich rund um mich stockdunkel. Ich habe die Augenbinde aufgesetzt und begebe mich in die Hände von Ursula Winter. Achtsam geht sie auf mich ein. Lotst mich behutsam durch die Dunkelheit – und meine Umwelt, die mir anders, irgendwie fremd erscheint. Obwohl ich mich sicher beim Ausprobieren fühle, merke ich, wie es mich stresst, nichts sehen zu können. Meine Handflächen sind etwas feucht und ich schwitze – dies aber nicht der Sommertemperaturen wegen.

Zuerst führt sie mich – ich halte mit der Hand ihren Ellenbogen. «Vertraue dir und vertrau mir», sagt Ursula Winter. Dennoch brauche ich einen Moment, bis ich nicht mehr verkrampft und wackelig einen Fuss vor den anderen setze sowie erfolglos mit der linken Hand die Umgebung abtaste. In und rund um die Borna übt Ursula Winter mit mir, wie ich mich mit meinem Gehör orientieren kann. Solang sie in meiner Nähe ist, fühle ich mich aufgehoben. Alleine bin ich verloren. «Das Mobilitätstraining braucht viel Zeit sowie Geduld und Willen, sich darauf einzulassen», sagt Ursula Winter. Das Treppensteigen lassen wir aus, ebenso wie sich im Dorf oder dem Bahnhof zurechtzufinden.

Mit dem Langstock in der rechten Hand und einer pendelnden Bewegung sichere ich jeden meiner Schritte ab. Irgendwann finde ich meinen Rhythmus und darf alleine vorausgehen. Locker ist anders. Wir verlassen das Gebäude. Etwas angespannt bin ich schon, denn die Geräusche prasseln nur so auf mich ein. Etwa die vorbeirauschenden Autos an der Gländstrasse. Wie weit ich davon entfernt bin, kann ich schwer einschätzen. Es geht zum Trottoir. Hier bemerke ich mit dem Blindenstock zwei Linien, die sich erheben. «Das ist die weisse Bodenmarkierung, dieses Leitsystem ermöglicht, sich leichter zu orientieren», erklärt Ursula Winter.

Handarbeit von A bis Z in der Bürstenmacherei

An diesem Tag lerne ich nicht nur auf eine andere Weise neu Wege zu beschreiten, sondern auch die Brailleschrift kennen. Zwar beherrsche ich das Zehnfingersystem sehr gut, doch auf der Punktschriftmaschine mit ihren sieben Tasten nützt mir dies nichts. Beim Braille-Alphabet beginne ich bei Null und versuche die Punktmuster, die von hinten ins Papier gepresst sind mit den Fingerspitzen als Erhöhungen zu ertasten. Mein Fingerspitzengefühl ist auch in der Werkstatt gefragt. In der Bürstenmacherei begrüssen mich meine Kolleginnen und Kollegen. Es ist ungewohnt, wenn der erste Eindruck ein akustischer ist. Wie sie wohl aussehen? Auf jeden Fall spüre ich eine grosse Herzlichkeit und Wärme. Gruppenleiterin Saskia Bröchin leitet mich in der Herstellung von Bürsten an. Ich ertaste meinen Arbeitsplatz und die Geräte. Direkt vor mir steht die Portionierungsmaschine. Drücke ich mit dem Fuss das Pedal, steht das Bündel mit Kokosfasern bereit. Davor muss ich an der mit Löchern versehenen Bürstenhalterung aus Buchenholz den Draht richtig positionieren. Dann gilt es mittig das Kokosfasern-Büschel in die Drahtschlinge zu legen und diese schliesslich zuzuziehen. In Handarbeit entstehen so qualitativ hochstehende Bodenwischer, Schrubber, Industriebürsten, Strassenbesen, aber auch Handbesen oder Spezialanfertigungen wie Wischbesen fürs Curling.

Als ich kurz vor Feierabend meine Augenbinde abnehme, brauche ich einen Moment, um die Eindrücke zu verarbeiten. Erstaunt betrachte ich meinen Arbeitsplatz, die Werkstatt und meine Arbeitskollegen. Die Bilder, die ich mir ausgemalt habe, passen nur teilweise. Doch was heisst das schon? Mir wird bewusst, dass ohnehin jeder Mensch die Welt auf seine ganz eigene Weise wahrnimmt. Nach meinem Selbstversuch bin ich aufgewühlt und tief berührt von den Begegnungen. Die Herzlichkeit, der Humor und die Direktheit klingen nach. Draussen erscheinen mir die Farben plötzlich viel intensiver, doch eigentlich ist dies unwesentlich. Viel wichtiger ist, wie es schon Antoine de Saint-Exupéry in seinem «Kleinen Prinzen» auf den Punkt gebracht hat: «Man sieht nur mit dem Herzen gut. Das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar».

 

Um mir ein Bild von meiner Umgebung zu machen, muss ich alles ertasten.
Um mir ein Bild von meiner Umgebung zu machen, muss ich alles ertasten.
Ursula Winter ist seit 35 Jahren Lehrerin für Orientierung und Mobilität.
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Christine Perolini leitet die Bürstenmacherei und die Sesselflechterei. (tiz)
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Es braucht Übung und Vertrauen, um mit dem Langstock unterwegs zu sein. (tiz)
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