
Aus Angst vor den Coronamutationen: Macht Europa jetzt die Grenzen dicht?
Wiederholt sich das Chaos vom vergangenen Frühling? Damals gingen im grenzfreien Schengen-Raum aus Angst vor dem Coronavirus in unkoordinierter Weise die Schlagbäume runter. Es kam zu langen Staus an den Grenzen, Flüge wurden gestrichen, Einkaufstourismus wurde untersagt. Jetzt, da sich die verschiedenen Coronamutationen mit hoher Geschwindigkeit in Europa auszubreiten drohen, stehen Grenzschliessungen und Grenzkontrollen wieder zur Debatte.
«Wenn andere Länder ganz andere Wege gehen sollten, dann muss man auch bis zum Äussersten bereit sein und sagen: Dann müssen wir auch wieder Grenzkontrollen einführen», sagte Bundeskanzlerin Angela Merkel am Dienstag. Noch klarer wurde Merkels Kanzleramtsminister Helge Braun: Alle Länder müsste die Infektionszahlen durch angemessene Massnahmen nun «deutlich» senken. Ansonsten seien strengere Einreiseregeln «nicht vermeidbar».
Grenzkontrollen und -schliessungen nicht ausgeschlossen: Bundeskanzlerin Angela Merkel.
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Merkel: Grenzkontrollen als Ultima Ratio
Schützenhilfe bekommt Merkel auch aus Bayern von Ministerpräsident Markus Söder. Er hält Grenzkontrollen für «zwingend notwendig». Bereits jetzt herrscht in Bayern eine Testpflicht für Einreisende und teilweise auch für Pendler. Und auch in der Schweiz werden entsprechende Forderungen laut: Am Montag verlangte der Tessiner Staatsrat in einer Mitteilung die Einführung systematischer Grenzkontrollen.
Das Ziel: Europaweite Lösung statt Alleingänge
Noch aber ist es nicht soweit. Bei einer Video-Konferenz am Donnerstagabend wollen die EU-Staats- und Regierungschefs versuchen, sich auf koordinierte und griffige Massnahmen zu einigen. Erst wenn das nicht klappt, sollen Grenzkontrollen in den Augen Merkels in Betracht gezogen werden. Die französische Regierung von Präsident Emmanuel Macron hat Angela Merkel bereits auf ihrer Seite. «Frankreich befürwortet Gesundheitskontrollen an der Grenze und eine koordiniertes europäisches Vorgehen», so Regierungssprecher Gabriel Attal.
Weitergehen möchte der belgische Premierminister Alexander de Croo. Er schlägt vor, alle nicht notwendigen Reisen zu untersagen. «Reisende lassen das Virus zirkulieren. Es muss daher möglich sein, vorübergehend und sehr gezielt jene Reisen zu verbieten, die nicht essenziell sind». De Croo weiss wovon er spricht: Diese Woche mussten in Flandern zwei Schulen geschlossen und rund 5000 Personen in Quarantäne geschickt werden, nachdem eine Belgierin die britische Coronamutation aus den Skiferien in der Schweiz eingeschleppt und weiterverbreitet hatte. Schon jetzt gilt für Einreisende nach Belgien eine Testpflicht, wenn sie sich mehr als 48 Stunden im Land aufhalten und aus einem Risikogebiet kommen.
Schweiz müsste ihre Massnahmen anpassen
Klar ist: Will die Schweiz als Schengen-Mitglied neue Grenzkontrollen oder sogar Grenzschliessungen verhindern, dürfte sie mit den europäischen Massnahmen gleichziehen müssen. Das könnte eine Harmonisierung der Testpflichten und der Quarantänebestimmungen mit sich bringen. Unklar ist, was für Auswirkungen neue Grenzkontrollen für die mehr als 300’000 Grenzgänger bedeuten würden, die täglich in die Schweiz pendeln. Im Frühling konnte für die Grenzgänger nach anfänglichen Startschwierigkeiten eine Prioritätslösung gefunden werden, die relativ gut funktionierte.
Bald nur noch mit Impfpass ins Flugzeug?
Neben der Frage der Grenzkontrollen diskutieren die EU-Staats- und Regierungschefs bei ihrer Video-Konferenz auch die Einführung eines Impfpasses. Gegen Corona geimpfte Personen soll damit das hindernisfreie Reisen in Europa wieder möglich gemacht werden. Vor allem vom Tourismus stark abhängige Länder wie Griechenland oder Spanien setzten sich im Hinblick auf die Sommersaison für die Einführung eines Impfpasses ein. In etlichen anderen Ländern ist die Skepsis gegen einen Impfpass aber gross, da man eine Zweiklassengesellschaft und eine faktische Impflicht als Voraussetzung für die Reisefreiheit befürchtet. Aus Diplomatenkreisen heisst es, dass es noch viel zu früh sei, um zu sagen, ob ein Impfpass wirklich kommt oder nicht.