
Ausstellung im Kunsthaus zeigt Georgiens zerschundenes Gesicht

Vor dem zweigeteilten Horizont steht ein Mann mit seinem Hund. Er schaut zu, wie ein Hebekran eine überlebensgrosse Statue aus dem Meer hievt, die ihm aus dem Gesicht geschnitten ist. Kurz darauf hat der schnauzbärtige Kaukasier mit markantem Profil die Statue mit Gurten an seinem Pick-up befestigt. Er fährt los, das vornübergekippte Steingesicht raspelt über den Asphalt. Während zehn Minuten fällt kein Wort.
Der georgische Künstler Vajiko Chachkiani folgt in seinem Film «Winter which was not there» einer strengen Formsprache. Die Strasse als horizontaler Einschnitt in der Landschaft und die Bewegung von links nach rechts, vereinzelt durchbrochen von vertikalen Aufnahmen, unterstreichen den Symbolgehalt des Films. Der zweigeteilte Horizont scheint Bewusstes von Unbewusstem zu trennen. Die über den Asphalt schrammende Statue wird an dieser Trennlinie zerrieben. Während der Fahrt gleiten spielende Kinder und stumme Häuserzeilen am Fahrzeugfenster vorbei. Als der Pick-up hält, ist der Befestigungsgurt leer.
Abstreifen der Vergangenheit
Den zehnminütigen Film von Vajiko Chachkiani zeigt das Kunsthaus Zofingen ab diesem Samstag im Rahmen der Ausstellung «Der Balkon» mit Kunstwerken, die sich mit Georgien auseinandersetzen. Die Statue könnte eine Anspielung auf den im georgischen Gori geborenen Diktator Josef Stalin sein. Während Georgien seit 1991 versucht, eine Demokratie nach europäischem Vorbild zu installieren und dafür Lehrgeld bezahlt hat, steht Stalin für die rückwärtsgewandte Sehnsucht nach der Fremdbestimmung Russlands.
«Winter which was not there» kann vor diesem Hintergrund als Aufforderung gelesen werden, diese Sowjetvergangenheit abzustreifen und den damit verbundenen Fundamentalismus und Dogmatismus, der in einem verhängnisvollen Pakt zwischen Kirche und Staat Urstände feiert, zu schleifen. Wie die Physiognomie der Statue vermuten lässt, betrifft dieser entwicklungsgeschichtliche Prozess zwar eine Nation, doch muss er individuell ausgetragen werden.
Vajiko Chachkianis Video, das zwischen individuellen und kollektiven Entwicklungsprozessen oszilliert, ist die beeindruckendste Arbeit der Ausstellung «Der Balkon». Sie startet diesen Samstag als Kontextveranstaltung zu den Literaturtagen Zofingen und nimmt Bezug auf das oft als Balkon Europas bezeichnete Georgien.
Nicht hinter, sondern wohlweislich auf die Kulissen der georgischen Hauptstadt Tbilissi geschaut hat die Zürcher Fotografin Sabine Hagmann. «You are here» heisst es in georgischen Schriftzeichen an der Wand zwischen ihren Fotografien, die verwitterte Wände, Mauerdurchbrüche, zugemauerten Fenster und Türen mit abblätterndem Lack zeigen. Sie scheinen eine Geschichte zu erzählen. Doch was lassen sie wirklich erkennen? Ist doch jeder einzelne selbst Teil einer jeden Betrachtung.
Keine Worte an der Wand
Mariam Natroshvili und Detu Jintcharadze sorgen derzeit in Tbilissi mit ihren auf Häuserwände aufgemalten Wortgemälden in georgischer Schrift für Furore. Ihre Wandsprayarbeit mit dem Schriftbild «Keine Worte» auf Georgisch setzt einen Kontrast zur Wortfülle der Literaturtage. Zudem leistet sie etwas Unmögliches, es ist ja trotzdem ein Wort an die Wand geschrieben. An der Vernissage vom Samstag, 20. Oktober, geben die beiden zudem einen 15-minütigen Einblick in ihr «Museum of Contemporary Art – Tbilisi – museum on call». In Ermangelung eines Museums für zeitgenössische Kunst sind die beiden in Tbilissi auf Bestellung mit ihrem transportablen, in einem Koffer untergebrachten Museum unterwegs. Für ein geringes Eintrittsgeld bringen sie Kunst in Form von Bildern und Filmen in verschiedenste Haushalte.
Die Schweizer Künstlerin Eva Dietrich hat in Tbilissi den Dokumentarfilm «Das fremde Gewürz mit Interviews zur Lage Georgiens» erstellt, er wird in der Begleitveranstaltung vom 28. Oktober gezeigt. Ihre Texte aus dem gleichnamigen Erzählband der Text «Der Zaun» sind traumwandlerische Mystifikationen und verschaffen der uralten Seele der Stadt eine wallend-wogende Präsenz.
Eine Videoinstallation im Obergeschoss lässt das Publikum Zeuge eines nur Frauen vorbehaltenen Sufitanzes werden und fordert zur Ruhe auf bequemen Kissen oder zum Tanz auf. Tbilissi ist nicht nur ein Schmelztiegel von östlichen und westlichen Kulturen, die Stadt war zwischen 1917 und 1925 neben Zürich, Paris und Berlin ein Zentrum von Dada. Vier Künstlergruppen haben dort radikal mit dem gesunden Menschenverstand aufgeräumt. Die aktuelle, in der Ausstellung aufliegende Zeitschrift georgisch-deutsche Zeitschrift Danarti macht dies anschaulich.
Abgerundet wird die Ausstellung von kleinformatigen Illustrationen der Grafikerin Tatia Nadareischwili zu ihrem Bilderbuch «Schlaf gut» und zu ihrer persönlichen Familiengeschichte. Und im Kabinett sind Entwürfe Plakatvorschläge zur Frankfurter Buchmesse 2018 Entwürfe der Lernenden der Fachklasse Grafik EFZ/BM der F+F Schule für Kunst und Design Zürich zu sehen.
Die vielfältige Ausstellung lässt unterschiedlichste Begegnungen mit Georgien zu. Zur Entwicklung eines tieferen Verständnisses empfehlen sich allerdings die begleitenden Veranstaltungen sowie der Besuch der Literaturtage Zofingen am kommenden Wochenende.